Himmlische Wunder
das?
Ich nickte erleichtert. Keine Ahnung, was ich von ihr erwartete – vielleicht hoffte ich, sie würde die Besucherinnen einfach wegschicken oder dafür sorgen, dass sie ihre Getränke verschütteten, so wie bei der Kellnerin im Tea-Shop.
Deshalb war ich verblüfft, als sie, statt zu bleiben und mir zu helfen, aufstand und sagte: »Setz dich doch zu deinen Freundinnen. Ich bin hinten, falls du mich brauchst. Amüsiert euch gut. Okay?«
Und dann ging sie und zwinkerte mir noch zu, als würde sie denken, ich könnte mich tatsächlich amüsieren, wenn ich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen wurde.
7
D IENSTAG , 27 . N OVEMBER
Komisch, dass es ihr so schwerfällt, ihre Fähigkeiten zu akzeptieren. Man sollte doch denken, ein Kind von Vianne würde alles dafür geben, um das zu sein, was sie ist. Und die Verwendung des Wortes Unfall –
Vianne sagt das auch immer, wenn sie von unerwünschten oder unerklärlichen Dingen spricht. Als gäbe es so etwas wie Unfälle in unserer Welt, in der alles miteinander verbunden ist und sich alles auf mystische Weise berührt, wie die Seidenstränge eines Gobelins. Nichts ist je ein Unfall oder ein Zufall; niemand geht verloren. Und wir, die wir besonders sind – wir, die wir sehen können – , wir gehen durchs Leben und heben die Fäden auf, fügen sie zusammen, weben unsere eigenen kleinen Muster, am Rand des großen Bildes –
Wie toll ist das denn, Nanou? Wie fabelhaft und wie subversiv, wie schön, wie grandios? Möchtest du daran nicht teilhaben? Deine eigene Bestimmung finden in diesem Fadengewirr – es gestalten –, nicht zufällig, sondern planvoll?
Fünf Minuten später kam sie zu mir in die Küche. Sie war bleich vor unterdrücktem Zorn. Ich weiß, wie sich das anfühlt; ich kenne diese Übelkeit im Magen, diese Übelkeit in der Seele, dieses quälende Gefühl der Hoffnungslosigkeit.
»Du musst machen, dass sie gehen«, sagte sie. »Ich will nicht, dass sie noch hier sind, wenn Maman kommt.«
Was sie sagen wollte, war: Ich will ihnen nicht noch mehr Munition liefern .
Ich betrachtete sie voll Mitgefühl. »Sie sind Kunden. Was kann ich tun?«
Sie schaute mich an.
»Ich meine es ernst«, sagte ich. »Sie sind deine Freundinnen –«
»Sind sie nicht!«
»Ach so. Na, dann –« Ich tat so, als würde ich zögern. »Dann wäre es nicht unbedingt ein Unfall, wenn du und ich – ein bisschen eingreifen würden.«
Bei dem Gedanken flackerten ihre Farben auf. »Maman sagt, das ist gefährlich –«
»Maman hat wahrscheinlich ihre Gründe.«
»Was für Gründe?«
Ich zuckte die Achseln. »Tja, Nanou, Erwachsene halten manchmal Informationen vor ihren Kindern zurück, um sie zu beschützen. Und manchmal beschützen sie weniger das Kind als sich selbst vor den Konsequenzen dieses Wissens …«
Sie schien verdutzt. »Willst du sagen, sie hat mich angelogen?«
Es war riskant, das wusste ich. Aber ich bin im Lauf der Zeit schon einige Risiken eingegangen – und außerdem will sie verführt werden. Es gibt eine rebellische Seite in der Seele jedes braven Kindes, der Wunsch, selbst Autorität zu gewinnen und die kleinen Götter, die sich Eltern nennen, zu stürzen.
Annie seufzte. »Du verstehst das nicht.«
»Oh, doch, ich verstehe. Du hast Angst«, sagte ich. »Du hast Angst davor, anders zu sein. Du denkst, dadurch fällst du auf.«
Sie überlegte kurz.
»Das ist es nicht«, entgegnete sie schließlich.
»Was ist es dann?«, fragte ich.
Sie sah mich an. Hinter der Tür zum Laden hörte ich die schrillen Quietschstimmen von kleinen Mädchen, die nichts Gutes im Schilde führen.
Ich lächelte ihr so verständnisvoll zu, wie ich nur konnte. »Du weißt, sie werden dich niemals in Ruhe lassen. Sie wissen jetzt, wodu wohnst. Sie können jederzeit zurückkommen. Sie haben sich schon auf Nico gestürzt –«
Sie zuckte zusammen. Ich weiß, wie gern sie ihn hat.
»Möchtest du, dass sie jeden Nachmittag hierher kommen? Dass sie hier herumlungern, über dich lachen –«
»Maman würde dafür sorgen, dass sie gehen«, sagte sie, klang aber nicht gerade überzeugt.
»Und dann?«, sagte ich. »Ich kenne das. Bei meiner Mutter und mir war es genauso. Erst die kleinen Dinge, die Dinge, bei denen wir dachten, dass wir mit ihnen fertig würden – die Gemeinheiten, die Quälereien, die Diebstähle, das Graffiti auf den Fensterläden nachts. Mit so etwas kann man leben, wenn man muss. Es ist nicht angenehm, doch man kann damit leben. Aber es endet
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