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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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einer Lokalzeitung über das Schokoladenfest in Lansquenet-sous-Tannes,ähnlich wie die Artikel, die ich schon gelesen habe, nur das Foto ist größer, man sieht Vianne mit zwei anderen Personen – mit einem Mann und einer Frau. Die Frau hat lange Haare und trägt eine Art Umhang mit Schottenkaros, der Mann lächelt unbehaglich in die Kamera. Freunde vielleicht? Im Artikel werden keine Namen genannt.
    Dann ein Ausschnitt aus einer Pariser Zeitung, mürbe und braun wie ein totes Blatt. Ich habe Angst, ihn zu entfalten, aber ich kann sehen, dass es darin um ein kleines Kind geht, das verschwunden ist, um eine gewisse Sylviane Caillou – sie wurde vor gut dreißig Jahren aus ihrem Buggy gestohlen. Als Nächstes ein etwas neuerer Zeitungsausschnitt, ein Bericht über einen seltsamen Tornado in Les Laveuses, dem winzigen Dorf an der Loire. Ziemlich trivial alles, würde man denken, aber für Vianne Rocher offenbar so wichtig, dass sie diese Artikel die ganze Zeit mit sich herumschleppt, bis hierher, und sie jetzt in dieser kleinen Kiste aufbewahrt – die sie schon länger nicht mehr hervorgeholt hat, wie ich aus der Staubschicht schließen kann.
    Das sind also deine Geister, Vianne Rocher. Komisch – sie wirken so bescheiden. Meine eigenen Geister sind da schon eindrücklicher, aber ich halte Bescheidenheit sowieso für eine sehr zweitklassige Tugend. Du hättest viel mehr erreichen können, Vianne. Aber mit meiner Hilfe gelingt dir das vielleicht noch.
    Gestern Abend habe ich mich dann an meinen Laptop gesetzt, mir einen Kaffee gemacht, in die Neonlichter draußen gestarrt und immer und immer wieder die Fragen in meinem Kopf herumgedreht. Nichts Neues über Les Laveuses, nichts Neues über Lansquenet. Allmählich komme ich fast zu der Überzeugung, dass Vianne Rocher eine so wenig greifbare Person ist wie ich selbst, eine Schiffbrüchige, die am Felsen von Montmartre gestrandet ist, ohne Vergangenheit, unergründlich.
    Was natürlich absurd ist. Nichts und niemand ist unergründlich. Aber nachdem nun alle direkten Mittel der Nachforschung ausgeschöpft waren, blieb mir nur noch ein Weg, und der Gedanke daran hielt mich lange wach.
    Es ist nicht so, dass ich Angst habe. Aber diese Methoden sind oft unzuverlässig und werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten bringen – und wenn Vianne Verdacht schöpft, sind sämtliche Chancen, näher an sie heranzukommen, verspielt.
    Trotzdem – Risiken einzugehen gehört dazu. Es ist lange her, dass ich es das letzte Mal mit Hellseherei versucht habe – mein System basiert auf praktischen Verfahren und nicht auf Glocke, Buch und Kerze, und in neun von zehn Fällen finde ich im Internet die Antwort wesentlich schneller. Aber jetzt ist ein wenig Kreativität gefragt.
    Eine Prise Kaktuswurzel, getrocknet, pulverisiert und in heißes Wasser geschüttet, hilft, um in den richtigen Gemütszustand zu kommen. Das ist Pulque , das göttliche Rauschmittel der Azteken, etwas abgewandelt für meine privaten Zwecke. Dann kommt das Zeichen des Rauchenden Spiegels, vor mir in den Staub auf dem Fußboden gezeichnet. Ich setze mich im Schneidersitz hin, den Laptop vor mir, stelle den Bildschirmschoner auf ein entsprechend abstraktes Bild und warte auf Erleuchtung.
    Meine Mutter hätte das niemals gebilligt. Um die Zukunft zu sehen, fand sie die traditionelle Kristallkugel wesentlich besser, obwohl sie zur Not auch mit den billigeren Alternativen vorlieb genommen hätte – mit magischen Spiegeln oder Tarotkarten. Was nicht weiter verwunderlich ist, weil sie diese Sachen ja in ihrem Laden hatte – und falls ihr irgendeins dieser Mittel je eine echte Offenbarung schenkte, dann habe ich davon jedenfalls nie etwas erfahren.
    Es gibt zum Thema Hellsehen mehrere Populärmythen. Erstens, dass man dafür spezielle Gegenstände braucht. Stimmt nicht. Es kann genügen, dass man die Augen schließt; wobei ich allerdings die fragmentierten Muster meines Bildschirmschoners vorziehe. Es ist nur ein System unter anderen, ein Mittel, um die analytische linke Hälfte des Gehirns mit trivialem Kram beschäftigt zu halten, während die kreative rechte Seite nach Hinweisen sucht.
    Dann –
    Sich einfach treiben lassen.
    Das ist ein ziemlich angenehmer Zustand, der sich noch steigert, wenn die Wirkung der Droge einsetzt. Am Anfang ist es ein leise entrücktes Gefühl, die Luft um mich herum öffnet sich, und obwohl ich die Augen nicht vom Bildschirm nehme, merke ich, dass sich der Raum viel größer

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