Himmlische Wunder
nie an diesem Punkt. Sie hören nicht auf. Hundekacke auf der Türschwelle, fiese Telefonanrufe mitten in der Nacht, Steine, die durch die Fensterscheibe geworfen werden, und dann gießt eines Tages jemand Benzin durch den Briefkastenschlitz in der Wohnungstür, und alles geht in Flammen auf …«
Ich kenne mich aus. Schließlich wäre es fast passiert. Ein spiritueller Buchladen zieht Aufmerksamkeit auf sich, vor allem, wenn er sich nicht im Stadtzentrum befindet. Briefe an die lokale Zeitung, Flugblätter, die Hallowe’en verdammen, sogar eine kleine Demonstration direkt vor dem Laden, mit handgeschriebenen Plakaten und einer Handvoll Mitglieder der Kirchengemeinde, die, rechtschaffen wie sie sind, nur ein Ziel vor Augen haben: Sie wollen die Schließung unseres Ladens bewirken.
»Ist nicht genau das in Lansquenet passiert?«
»Lansquenet war etwas anderes.«
Ihr Blick wanderte unruhig zur Tür. Ich merkte, wie es in ihrem Inneren rumorte. Es würde nicht mehr lange dauern, das spürte ich an der elektrischen Spannung in der Luft.
»Tu’s«, sagte ich.
Sie schaute mich an.
»Tu’s. Ich verspreche dir, es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest.«
Ihre Augen leuchteten. »Maman sagt –«
»Eltern wissen auch nicht alles. Und früher oder später musst du sowieso lernen, für dich selbst die Verantwortung zu übernehmen. Komm. Sei kein Opfer, Nanou. Erlaube ihnen nicht, dich in die Flucht zu schlagen.«
Sie überlegte eine Weile, aber ich merkte, dass ich noch nicht ganz zu ihr durchgedrungen war.
»Es gibt Schlimmeres als weglaufen«, sagte sie.
»Sagt das deine Mutter? Hat sie deshalb ihren Namen geändert? Impft sie dir deshalb solche Angst ein? Warum erzählst du mir nicht, was in Les Laveuses passiert ist?«
Damit hatte ich schon eher ins Schwarze getroffen. Aber auch noch nicht ganz. Ihr Gesicht wurde trotzig, verschlossen, wie das bei jungen Mädchen gern geschieht – diese Miene, die sagt: Red du nur, red du nur –
Ich gab ihr einen Schubs. Einen minikleinen Schubs. Ließ meine Farben schillern, streckte die Hand nach dem Geheimnis aus – was immer es sein mochte –
Und dann sah ich, aber nur kurz, eine Abfolge von Bildern, wie Rauch über dem Wasser.
Wasser. Genau, das ist es. Ein Fluss , dachte ich. Und eine silberne Katze, ein kleiner silberner Katzenanhänger – beides beleuchtet von einer Halloween-Laterne. Ich griff noch einmal zu, bekam es beinah zu fassen – aber dann –
BAM !
Es war, als hätte ich mich an einen elektrischen Zaun gelehnt. Ein Stromstoß durchzuckte mich, warf mich zurück. Der Rauch lichtete sich, das Bild zersplitterte, jeder Nerv in meinem Körper schien aufgeladen. Ich spürte, dass es gänzlich ungeplant war – eine Entladung aufgestauter Energie, wie bei einem Kind, das mit dem Fuß aufstampft –, aber wenn ich in ihrem Alter auch nur die Hälfte dieser Kraft besessen hätte –
Annie schaute mich an, mit geballten Fäusten.
Ich lächelte ihr zu. »Du bist gut«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Oh, doch. Du bist sogar sehr gut. Vielleicht besser als ich. Eine Gabe –«
»Ja, klar.« Sie sprach leise, angespannt. »Tolle Gabe. Mir wär’s lieber, ich könnte tanzen. Oder malen.« In dem Moment fiel ihr etwas ein, der Schreck fuhr ihr sichtlich in die Glieder. »Aber du verrätst Maman nichts, versprochen?«
»Wieso sollte ich ihr etwas verraten?«, entgegnete ich. »Denkst du, du bist die Einzige, die ein Geheimnis für sich behalten kann?«
Sie studierte mein Gesicht.
Draußen hörte ich das Windspiel klimpern.
»Sie sind weg«, sagte Annie.
Sie hatte recht. Als ich in den Laden schaute, waren die Mädchen verschwunden. Zurück blieben nur die kreuz und quer stehenden Stühle, die halbleeren Coladosen und in der Luft ein Hauch von Kaugummi, Haarspray und dem süßlichen Duft von Jungmädchenschweiß.
»Sie kommen wieder«, murmelte ich.
»Vielleicht auch nicht«, entgegnete Annie.
»Falls du Hilfe brauchst –«
»Dann wende ich mich an dich«, sagte sie.
Ich wende mich an dich, ich wende mich an dich! Was bin ich, eine gute Fee?
Ich suchte natürlich nach Les Laveuses. Zuerst im Internet. Ich fand nichts, nicht einmal eine Informationsseite für Touristen. Nirgends ein Hinweis auf ein Fest oder eine Chocolaterie . Weitere Nachforschungen führten mich zu einer Crêperie, aber auch sie wurde nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar in einer Food-Zeitschrift. Die Besitzerin: eine Witwe namens Françoise
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