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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Simon.
    Könnte es sein, dass sie Vianne war, unter anderem Namen? Die Möglichkeit konnte ich nicht ausschließen. Allerdings wurde die Frau im Artikel selbst überhaupt nicht erwähnt. Aber nach einem einzigen Anruf hatte die Spur sich erledigt. Françoise war selbst am Apparat. Sie klang brüchig und misstrauisch, die Stimme einer Frau von mindestens siebzig. Ich gab mich als Journalistin aus. Siesagte, sie habe noch nie von einer Vianne Rocher gehört. Yanne Charbonneau? Auch nicht. Auf Wiederhören.
    Les Laveuses ist eine winzige Ortschaft, nicht mal ein richtiges Dorf, wenn ich es korrekt sehe. Eine Kirche, ein paar Läden, die Crêperie, das Café, das Kriegerdenkmal. Die Umgebung besteht aus Feldern und Wiesen. Sonnenblumen, Mais, Obstbäume. Der Fluss fließt nebenher, wie ein langer brauner Hund. Ein Nirgendwo, jedenfalls denkt man das – aber da in meinem Hinterkopf meldet sich etwas. Irgendein Erinnerungsleuchten – eine kurze Meldung in den Nachrichten –
    Ich ging in die Bibliothek, fragte nach dem Archiv. Sie haben sämtliche Exemplare der Zeitschrift Ouest-France , auf CD und Mikrofilm. Ich habe gestern Abend um sechs angefangen. Zwei Stunden lang habe ich gesucht. Morgen mache ich das wieder – und wieder, immer wieder –, bis ich etwas finde. Dieser Ort ist der Schlüssel – Les Laveuses an der Loire. Und wer weiß, welche Türen ich aufschließen kann, wenn ich erst den Schlüssel habe.
    Meine Gedanken wandern oft zu Annie. Ich wende mich an dich, hat sie gestern gesagt. Aber damit man sich an jemanden wendet und ihn um Hilfe bittet, muss man den Leidensdruck erst einmal spüren – und dafür braucht es mehr als die kleinen Sticheleien in der Schule. Etwas, das sie alle Vorsichtsmaßnahmen beiseite schieben lässt, so dass sie beide bei ihrer Freundin Zozie Zuflucht suchen.
    Ich weiß, wovor sie Angst haben.
    Aber was brauchen sie?
    Als ich heute Nachmittag allein im Laden war, während Vianne mit Rosette einen Spaziergang machte, ging ich nach oben, um ihre Sachen zu durchsuchen. Ich wollte nichts stehlen, nein, was ich tat, ging viel weiter. Wie sich zeigte, hat sie nicht viel; eine Garderobe, die noch elementarer ist als meine eigene, ein gerahmtes Bild an der Wand (vermutlich von einem Flohmarkt), ein Quilt als Bettdecke (selbst gemacht, würde ich denken), drei Paar Schuhe, alle schwarz – wie langweilig ist das denn? Doch schließlich, ganzhinten im Schrank, der Volltreffer: eine Holzkiste, so groß wie ein Schuhkarton, mit allem möglichen Krimskrams.
    Nicht, dass Vianne Rocher das so sehen würde. Ich bin auch daran gewöhnt, aus Kisten und Taschen leben zu müssen, und ich weiß, dass solche Menschen kein Moos ansetzen wollen. Die Sachen in Viannes Holzkiste sind die Puzzleteile ihres Lebens, Dinge, die sie nicht zurücklassen konnte: ihre Vergangenheit, ihr Leben, die Geheimnisse ihres Herzens.
    Ich öffnete die Kiste. Sehr, sehr vorsichtig. Vianne ist eine Geheimniskrämerin, und das macht sie misstrauisch. Sie weiß bestimmt genau, wo und wie alles darin geordnet ist, alles hat seinen festen Platz, jeder Zettel, jeder Gegenstand, jeder Faden, jeder Schnipsel, jede Staubfluse. Sie merkt sofort, wenn etwas berührt wurde, aber ich habe ein erstklassiges visuelles Gedächtnis und werde nichts durcheinanderbringen.
    Die Geheimnisse kommen ans Tageslicht, eins nach dem anderen. Vianne Rocher in Kurzversion. Zuerst die Tarotkarten – nichts Besonderes, einfach die Marseille-Version, aber häufig benutzt und vergilbt vom Alter.
    Darunter befinden sich die Dokumente – Pässe auf den Namen Vianne Rocher, eine Geburtsurkunde für Anouk, mit demselben Nachnamen. Also ist aus Anouk Annie geworden, dachte ich, so wie Vianne zu Yanne wurde. Keine Papiere für Rosette, was seltsam ist, dafür ein abgelaufener Pass mit dem Namen Jeanne Rocher, der vermutlich Viannes Mutter gehörte. An dem Foto kann man erkennen, dass sie Vianne nicht besonders ähnlich sieht – aber Anouk sieht ja auch nicht aus wie Rosette. Ein verblasstes Band, an dem ein Glücksbringer in Form einer Katze hängt. Dann kommen verschiedene Fotos – insgesamt nicht mal ein Dutzend. Auf ihnen erkenne ich eine jüngere Anouk, eine jüngere Vianne, eine jüngere Jeanne in Schwarzweiß. Alle sorgfältig mit einer Schleife zusammengebunden, samt ein paar alten Briefen und mehreren Zeitungsartikeln. Behutsam blättere ich die Sachen durch, achte auf die vergilbten Ränder und Knicke – ah, da ist ein Bericht aus

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