Himmlische Wunder
vergraben.
»Bitte, Thierry. Sei nicht so. Rosette konnte keinen Mittagsschlaf machen, und du weißt, wie sie dann ist.« Weiß er das wirklich? Sein Sohn ist schon über zwanzig, glaube ich, und vielleicht hat er vergessen, wie es ist, wenn man kleine Kinder hat. Die Wutanfälle, die Tränen, der Krach, das Chaos. Oder vielleicht hat Sarah das alles mühelos gemeistert und ihm die Rolle des Großzügigen überlassen: das Fußballtraining, die Spaziergänge im Park, die Kissenschlachten, die Spiele.
»Du hast vergessen, wie es ist«, sagte ich. »Für mich ist das oft wirklich nicht leicht. Aber du machst alles nur noch schlimmer, wenn du dich einmischst.«
Er wandte sich mir zu, sein Gesicht bleich und angespannt. »Ich habe nicht so viel vergessen, wie du denkst. Als Alan auf die Welt kam –« Er unterbrach sich, und ich merkte, dass er kurz davor war, die Fassung zu verlieren.
Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Was ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Später«, antwortete er mit belegter Stimme. »Ich erzähl’s dir später.«
Wir kamen zur Place des Faux-Monnayeurs, und ich blieb auf der Schwelle des Rocher de Montmartre stehen. Das neue Schild quietschte. Ich holte tief Luft.
»Es tut mir leid, Thierry«, wiederholte ich.
Er zuckte die Achseln, ein Bär in einem Kaschmirmantel, aber ich hatte den Eindruck, dass sein Gesicht ein bisschen weicher war.
»Ich mach’s wieder gut«, sagte ich. »Ich koche dir etwas zum Abendessen, und dann bringen wir Rosette ins Bett und können über alles reden.«
Er seufzte. »Abgemacht.«
Ich öffnete die Tür.
Und da sah ich einen Mann stehen, einen Mann in Schwarz. Reglos stand er da, und sein Gesicht war mir vertrauter als mein eigenes, und das Lächeln, wunderbar und hell wie ein Blitz im Sommer, verschwand von seinen Lippen …
»Vianne«, sagte er.
Es war Roux.
1
S AMSTAG , 1 . D EZEMBER
Als er den Laden betrat, wusste ich sofort Bescheid: Dieser Mann ist ein Problem. Ein Problem nach meinem Geschmack. Es gibt Menschen, die irgendwie elektrisch aufgeladen sind – man sieht es an ihren Farben, und seine flackerten gelblich und blassblau, wie eine Gasflamme, die heruntergedreht ist, aber jederzeit explodieren kann.
Man merkt es allerdings nicht gleich, wenn er vor einem steht. Nichts Besonderes, denkt man eher. Paris verschluckt jedes Jahr eine Million Menschen wie ihn. Männer in Jeans und Arbeitsstiefeln, Männer, die in der Großstadt nicht zurechtzukommen scheinen, Männer, die ihren Lohn bar ausbezahlt kriegen. Ich habe das selbst oft genug erlebt, daher weiß ich Bescheid. Und wenn dieser Typ hier ist, um Pralinen zu kaufen, dann will ich die Madonna von Lourdes sein!
Ich stand gerade auf einem Stuhl und hängte ein Bild auf. Genauer gesagt, mein Porträt, die Skizze von Jean-Louis. Ich hörte ihn hereinkommen. Leises Geklimper, Stiefelschritte auf dem Holzfußboden.
Dann sagte er Vianne – und in seiner Stimme schwang ein viel sagender Unterton mit, weshalb ich mich sofort umdrehte. Ich schaute ihn an. Ein Mann in Jeans und schwarzem T-Shirt. Rote Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wie gesagt: nichts Besonderes.
Trotzdem kam er mir irgendwie bekannt vor. Und sein Lächeln strahlte so hell wie die Champs-Élysées an Heiligabend. Das verliehihm die Aura des Außergewöhnlichen – aber nur einen Moment lang, denn das Lächeln erlosch sofort und verwandelte sich in verdattertes Staunen, als er merkte, dass er sich geirrt hatte.
»Entschuldigung«, murmelte er. »Ich dachte, Sie wären –« Er unterbrach sich. »Sind Sie die Chefin hier?« Er sprach ganz ruhig, mit dem rollenden R und den harten Vokalen des Südens.
»Nein, ich arbeite nur hier«, antwortete ich mit einem Lächeln. »Die Chefin ist Madame Charbonneau. Kennen Sie sie?«
Er stutzte.
»Yanne Charbonneau«, wiederholte ich.
»Ja. Ich kenne sie.«
»Im Augenblick ist sie leider nicht da. Aber sie kommt sicher bald zurück.«
»Gut. Ich warte.« Er setzte sich an einen Tisch und schaute sich alles an, den Ladenraum, die Bilder, die Pralinen – genüsslich, wie mir schien, aber auch mit einem gewissen Unbehagen, als wüsste er nicht genau, ob er willkommen war.
»Und Sie sind …?«, fragte ich.
»Ach, nur ein Freund.«
Ich lächelte ihm zu. »Ich meinte: Wie heißen Sie?«
»Oh.« Jetzt fand er die Situation eindeutig ungemütlich. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen, um seine Anspannung zu kaschieren, als hätte meine Gegenwart einen Plan vereitelt,
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