Himmlische Wunder
Miene.
»Weißt du, ich bin nicht besonders hungrig«, sagte ich. »Wir könnten doch einfach einen Spaziergang machen und uns in irgendeinem Café unterwegs etwas zu essen holen. Zum Beispiel im Parc de la Turlure oder im –«
»Aber ich habe reserviert«, entgegnete Thierry.
Ich musste lachen, als ich sein Gesicht sah. Bei ihm muss alles nach Plan laufen. Für jede Eventualität gibt es eine Regel, Zeitpläne müssen eingehalten, Richtlinien befolgt werden. Einen fürs Mittagessen reservierten Tisch kann man nicht absagen, und obwohl wir beide genau wissen, dass er sich in Kneipen wie dem Le P’tit Pinson am wohlsten fühlt, hat er sich für das La Maison Rose entschieden, in dem Anouk ein Kleid tragen muss. So ist er eben – ein Fels in der Brandung, berechenbar, immer Herr der Lage –, aber manchmal wünsche ich mir, er wäre nicht ganz so unflexibel und könnte ein bisschen Spontaneität entwickeln.
»Du trägst deinen Ring ja gar nicht«, sagte er.
Instinktiv schaute ich auf meine Hände. »Es ist wegen der Schokolade«, erklärte ich. »Sie geht überall dazwischen.«
»Du und deine Schokolade«, brummte Thierry.
Es war nicht gerade eine unserer gelungensten Unternehmungen. Vielleicht lag es am trüben Wetter oder an den vielen Leuten oder an Anouks Appetitmangel oder an Rosettes hartnäckiger Weigerung, einen Löffel zu benutzen. Thierrys Lippen wurden immer schmaler, als er sah, wie sie auf dem Teller mit den Fingern ein Spiralmuster aus Erbsen legte.
»Benimm dich, Rosette«, ermahnte er sie schließlich.
Rosette ignorierte ihn und widmete sich hingebungsvoll ihren Erbsen.
»Rosette!« Sein Ton wurde schärfer.
Sie beachtete ihn immer noch nicht, aber eine Frau am Nachbartisch drehte sich irritiert um.
»Ist schon gut, Thierry. Du weißt doch, wie sie ist. Lass sie einfach in Ruhe und –«
Thierry knurrte frustriert. »Mein Gott, wie alt ist sie jetzt – fast vier?« Er schaute mich mit funkelnden Augen an. »Es ist nicht normal, Yanne«, sagte er. »Du musst endlich den Tatsachen ins Auge sehen. Sie braucht Hilfe. Ich meine, schau sie dir doch an.« Verärgert musterte er Rosette, die sich jetzt mit konzentrierter Miene eine Erbse nach der anderen in den Mund steckte.
Er griff nach ihrer Hand. Sie schaute ihn erschrocken an. »Hier. Nimm den Löffel. Nimm ihn in die Hand, Rosette.« Er drückte ihr den Löffel in die Hand. Sie ließ ihn fallen. Er hob ihn wieder auf.
»Thierry –«
»Nein, Yanne, sie muss es lernen.«
Noch einmal versuchte er, Rosette den Löffel in die Hand zu zwingen. Sie ballte die kleinen Finger zu einer trotzigen Faust.
»Hör zu, Thierry.« Ich wurde allmählich wütend. »Lass bitte mich entscheiden, was Rosette –«
»Au!« Er zog abrupt seine Hand zurück. »Sie hat mich gebissen. Dieses kleine Miststück! Sie hat mich gebissen!«, zeterte er.
Am Rand meines Gesichtsfeldes glaubte ich einen goldenen Schimmer zu sehen, ein glänzendes Auge, einen geschwungenen Schwanz.
Rosette machte mit den Fingern das Zeichen Komm her .
»Rosette, bitte lass das –«
»Bam«, sagte Rosette.
Oh, nein. Nicht jetzt!
Ich stand auf. »Anouk, Rosette –« Ich schaute Thierry an. An seinem Handgelenk konnte man kleine Bissspuren erkennen. Panik stieg in mir hoch. Ein Unfall in unserem Laden, das geht ja noch. Aber hier, in aller Öffentlichkeit, vor so vielen Leuten!
»Tut mir leid«, sagte ich. »Wir müssen gehen.«
»Aber du hast noch nicht aufgegessen«, protestierte Thierry.
Ich sah, wie er zwischen Ärger, Wut und dem überwältigenden Bedürfnis, uns festzuhalten, hin und her gerissen wurde – er wollte sich selbst beweisen, dass alles in Ordnung war, dass die Situation geregelt und der ursprüngliche Plan eingehalten werden konnte.
»Ich kann nicht«, sagte ich und hob Rosette hoch. »Entschuldige, ich muss hier raus.«
»Yanne –«, rief Thierry und fasste mich am Arm. Meine Wut, dass er es gewagt hatte, sich in die Erziehung meines Kindes, in mein Leben einzumischen, verpuffte sofort, als ich den Blick in seinen Augen sah.
»Ich will doch nur, dass alles perfekt ist«, murmelte er.
»Es ist schon gut«, beruhigte ich ihn. »Du bist nicht schuld.«
Er bezahlte die Rechnung und begleitete uns nach Hause. Es war erst vier Uhr, aber es wurde schon dunkel, und die Straßenlaternen spiegelten sich in den feuchten Pflastersteinen. Wir redeten kaum. Thierry blieb stumm, sein Gesicht war erstarrt, und die Hände hatte er tief in den Taschen
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