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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Thierrys Lächeln gerät immer ein bisschen zu breit. Aber wenn Alan auch nur ein bisschen nach seinem Vater kommt, dann kann es ja sein, dass sie sich zu ähnlich sind und deswegen keine Freunde sein können.
    Ich merkte, dass er seine Trüffel nicht aß.
    Als ich ihn darauf aufmerksam machte, wurde er verlegen. »Du kennst mich doch, Yanne. Süßigkeiten sind nicht mein Ding.« Und er schenkte mir wieder dieses breite, dynamische Lächeln, das gleiche, das er aufsetzt, wenn er von seinem Sohn spricht. Eigentlich ist es sehr lustig – Thierry isst nämlich wahnsinnig gern Süßigkeiten, aber er schämt sich deswegen, als würde es an seiner Männlichkeit kratzen, wenn er zugibt, dass er Milchschokolade liebt. Meine Trüffel sind zu dunkel, zu sahnig, und der bittere Geschmack ist ihm fremd.
    Ich gab ihm Milchschokolade.
    »Nimm schon«, sagte ich. »Ich kann Gedanken lesen.«
    Genau in dem Moment kam Anouk herein, aus dem Regen, zerzaust und nach feuchtem Laub riechend, eine Papiertüte mit heißen Kastanien in der Hand. In den letzten Tagen steht vor Sacré Cœur ein Maronenverkäufer, und immer, wenn sie dort vorbeikommt, kauft sich Anouk eine Portion. Sie war strahlender Laune. In ihrem roten Mantel und der grünen Hose sah sie aus wie eine Christbaumdekoration, und in ihren Locken glitzerten Regentropfen.
    »Hallo, jeune fille !«, rief Thierry. »Wo hast du dich denn herumgetrieben? Du bist ja völlig durchnässt!«
    Anouk musterte ihn mit einem ihrer Erwachsenenblicke. »Ich war mit Jean-Loup auf dem Friedhof. Und ich bin nicht völlig durchnässt. Das hier ist ein Anorak. Er schützt gegen den Regen.«
    Thierry lachte. »Die Nekropolis. Du weißt, was Nekropolis bedeutet, Annie?«
    »Ja, klar. Stadt der Toten.« Anouks Wortschatz, der schon immer sehr differenziert war, hat sich durch den Kontakt mit Jean-Loup Rimbault noch verbessert.
    Thierry machte ein komisches Gesicht. »Ist ein Friedhof nicht ein bisschen makaber? Wie kann man da mit Freunden herumhängen?«
    »Jean-Loup hat die Friedhofskatzen fotografiert.«
    »Tatsächlich?«, sagte er und fügte dann, an mich gewandt, hinzu:»Na ja, falls du dich losreißen kannst – ich habe im La Maison Rose einen Tisch reserviert, fürs Mittagessen –«
    »Mittagessen? Aber der Laden –«
    »Ich werde die Stellung halten«, verkündete Zozie. »Macht euch einen schönen Nachmittag.«
    »Annie? Bist du so weit?«, fragte Thierry.
    Ich sah, wie Anouk ihn anschaute. Nicht direkt verächtlich, aber doch ziemlich ablehnend. Das überrascht mich nicht besonders. Thierry meint es gut, aber er hat eine etwas altmodische Vorstellung von Kindern, und Anouk spürt bestimmt, dass er manches an ihr nicht so recht billigen kann. Zum Beispiel, wenn sie mit Jean-Loup im Regen herumrennt, sich stundenlang mit ihm auf dem alten Friedhof herumtreibt (wo sich die Stadtstreicher und andere zwielichtige Gestalten versammeln) oder mit Rosette laute Spiele veranstaltet.
    »Vielleicht könntest du ein Kleid anziehen«, sagte er.
    Anouks Widerstand wurde stärker. »Ich mag das, was ich jetzt anhabe.«
    Ich auch, ehrlich gesagt. In einer Stadt, in der elegante Konformität der Maßstab ist, wagt es Anouk, sich fantasievoll zu kleiden. Vielleicht ist das Zozies Einfluss; aber die grellen Farben, die sie trägt und die sich oft beißen, und ihre neueste Angewohnheit, die Sachen individuell zu gestalten – mit einer Schleife, einer Brosche, einem Stück Borte –, verleiht allem etwas Übermütiges, was ich seit Lansquenet nicht mehr an ihr gesehen habe.
    Vielleicht versucht sie ja, diese Zeit wiederzubeleben, eine Zeit, als alles einfacher war. In Lansquenet konnte Anouk ungehindert herumstromern, sie spielte den ganzen Tag unten am Fluss, redete immer mit Pantoufle, organisierte Piraten- und Krokodilspiele und hatte immer Probleme in der Schule.
    Aber das war eine andere Welt. Außer den Flusszigeunern, die vielleicht einen schlechten Ruf hatten und manchmal auch betrogen, doch garantiert nicht gefährlich waren, gab es keine Fremden in Lansquenet. Niemand machte sich die Mühe, seine Haustür abzuschließen. Selbst die Hunde kannte jeder.
    »Ich möchte kein Kleid anziehen«, sagte sie.
    Thierry stand neben mir, und ich spürte seine stummen Einwände. In Thierrys Welt tragen Mädchen Kleider. Im letzten halben Jahr hat er für Anouk und Rosette mehrere Kleider gekauft, in der Hoffnung, dass ich den Wink mit dem Zaunpfahl verstehe.
    Jetzt musterte er mich mit verkniffener

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