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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Kratzer an den Holzlöffeln oder an den Kupfertöpfen. Den Löffel mit der flachen Seite mag ich am liebsten, Roux hat ihn aus einem Stück Holz geschnitzt, und er passt genau in meine Hand. Und der rote Spachtel, er ist aus Plastik, aber ich habe ihn seit meiner Kindheit, war ein Geschenk von einem Gemüsehändler in Prag. In dem kleinen Emailletopf mit dem abgestoßenen Rand habe ich immer für Anouk die Schokolade zubereitet, als wir dieses Ritual noch zweimal am Tag vollführten und es genauso wenig vergessen durften wie Priester Reynaud seine Messe.
    Die Platte, die ich fürs Abkühlen verwende, hat überall kleine Macken. Ich kann sie besser deuten als die Linien in meiner eigenenHand, aber ich lasse es lieber bleiben. Ich möchte die Zukunft nicht sehen. Die Gegenwart ist mehr als genug.
    »Ist die Chocolatière zu Hause?«
    Thierrys Stimme ist unverkennbar. Laut und gutmütig. Ich hörte ihn in der Küche (ich machte gerade Likörpralinen, die komplizierteste meiner Spezialitäten). Das Windspiel klimperte, energische Schritte, … dann Stille, während er sich umschaute.
    Ich kam aus der Küche, wischte mir die mit geschmolzener Schokolade verschmierten Finger an der Schürze ab.
    »Thierry!«, rief ich und umarmte ihn, streckte dabei aber die Hände möglichst weit weg, um seinen Anzug nicht zu beschmutzen.
    Er grinste. »Mein Gott! Du hast ja komplett renoviert.«
    »Gefällt es dir?«
    »Es ist so anders.« Vielleicht habe ich es mir ja nur eingebildet, aber ich glaubte, einen missbilligenden Unterton in seiner Stimme zu hören. Er betrachtete die hellen Wände, die mit Schablonen aufgetragenen Muster, die mit den Händen bemalten Möbel, die alten Sessel, die Schokoladenkanne und die Tassen auf dem dreibeinigen Tisch und die Schaufensterdekoration mit Zozies roten Schuhen zwischen den Bergen aus Schokoschätzen. »Es sieht aus wie –« Er unterbrach sich, und ich folgte der Bewegung seiner Augen: ein kurzer Kontrollblick zu meiner Hand. Sein Mund wurde ein bisschen verkniffen, so wie immer, wenn ihm etwas nicht passt. Aber seine Stimme war freundlich, als er sagte: »Es sieht großartig aus. Du hast wirklich ein Wunder vollbracht.«
    »Schokolade?«, fragte Zozie und goss eine Tasse ein.
    »Ich, nein danke, ach, eine Tasse.«
    Sie reichte ihm eine Espressotasse, mit einer Trüffel. »Das ist eins unserer Sonderangebote«, erklärte sie lächelnd.
    Er schaute sich noch einmal um: die gestapelten Kartons, die Glasschälchen, Fondants, Bänder, Röschen, Knusperkekse, Veilchenpralinen, die weißen Mokkataler, dunklen Rumtrüffel, Chiliecken. Zitronenparfait und Kaffeekuchen auf der Theke. Man konnte ihm seine Fassungslosigkeit ansehen.
    »Hast du das alles gemacht?«, fragte er schließlich.
    »Tu nicht so verwundert«, sagte ich.
    »Na ja, für Weihnachten, nehme ich an.« Er runzelte die Stirn, als er auf das Preisschild auf einer Schachtel mit Chiliecken sah. »Heißt das, die Leute kaufen die Sachen tatsächlich?«
    »Jeden Tag«, verkündete ich mit einem Lächeln.
    »Das hat dich bestimmt ein Vermögen gekostet«, sagte er. »Die ganzen Renovierungsarbeiten –«
    »Wir haben alles selbst gemacht. Alle miteinander.«
    »Na, das ist ja toll. Ihr habt hart gearbeitet.« Er nippte an seiner Schokolade, und wieder sah ich, dass er den Mund verzog.
    »Du musst die Schokolade nicht trinken, wenn sie dir nicht schmeckt«, sagte ich, bemüht, nicht ungeduldig zu klingen. »Ich mache dir gern einen Kaffee, wenn dir das lieber ist.«
    »Nein, die Schokolade schmeckt ausgezeichnet.« Er trank noch ein Minischlückchen. Er ist ein miserabler Lügner. Eigentlich müsste ich mich über seine Ehrlichkeit freuen, ich weiß, aber irgendwie fühlte ich einen unangenehmen Stich. Er ist so verletzlich unter seiner Selbstsicherheit, und er hat keine Ahnung, was der Wind alles kann.
    »Ich bin nur überrascht, mehr nicht«, sagte er. »Irgendwie ist alles ganz anders als vorher, so plötzlich, quasi über Nacht.«
    »Nicht alles«, sagte ich und lächelte wieder.
    Mir fiel auf, dass Thierry mein Lächeln nicht erwiderte.
    »Wie war London? Was hast du gemacht?«
    »Ich habe mich mit Sarah getroffen und ihr von der Hochzeit erzählt. Und ich habe dich wie verrückt vermisst.«
    Ich lächelte. »Und Alan, dein Sohn?«
    Jetzt lächelte er endlich auch. Er lächelt immer, wenn ich seinen Sohn erwähne, obwohl er von sich aus selten über ihn spricht. Ich frage mich oft, wie gut sie tatsächlich miteinander auskommen.

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