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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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den Kopf. Und lässt sich nichts anmerken, nicht die kleinste Regung. Höchstens ein leichtes Augenzucken. Aber seine Farben lodern mit ungebremster Heftigkeit.
    »Na ja, falls Sie Interesse haben, können Sie sich gern an mich wenden«, fährt Thierry fort. »Ich suche Ihnen auch ein Haus. Für eine halbe Million kriegt man schon was ganz Anständiges.«
    »Ich fürchte, ich muss jetzt gehen«, sagt Roux.
    Anouk protestiert. »Aber du bist doch gerade erst gekommen!« Sie wirft Thierry einen wütenden Blick zu, den dieser aber überhaupt nicht bemerkt. Seine Antipathie gegen Roux kommt von tief innen und hat keinerlei vernünftige Grundlage. Er ahnt nicht einmal, wie die Wahrheit aussieht, aber er hat den Verdacht, dass irgendetwas nicht stimmt – nicht, weil der fremde Mann etwas Bestimmtes getan oder gesagt hat, sondern einfach, weil er so aussieht, wie er aussieht.
    Und wie sieht er aus? Na ja, Sie wissen schon. Es sind weder die billigen Klamotten noch die langen Haare, auch nicht die schlechten Umgangsformen. Roux hat irgendetwas an sich, dieser lässigungehobelte Stil, typisch für einen Mann, der auf der falschen Seite der Bahngleise geboren wurde. Thierry sieht einen Kontrahenten, der zu allem fähig wäre, der Kreditkarten fälschen kann oder ein Konto eröffnet, für das er einen gestohlenen Führerschein vorlegt, oder der sich eine Geburtsurkunde (und vielleicht sogar einen Pass) beschafft von einer Person, die schon lange tot ist, oder der das Kind einer Frau stiehlt und wie der Rattenfänger verschwindet und nichts als Fragen zurücklässt.
    Wie ich schon sagte:
    Dieser Mann ist ein Problem.
    Ganz nach meinem Geschmack.

2

    S AMSTAG , 1 . D EZEMBER
    Oh, Mann. Hallo, Fremder! Da steht er mitten in der Chocolaterie , als wäre er nur mal schnell nachmittags weggewesen und nicht vier Jahre, ganze vier Jahre mit Geburtstagen und Weihnachtsfesten, und er hat sich so gut wie nie gemeldet, nie hat er uns besucht und jetzt –
    »Roux!«
    Ich wollte sauer auf ihn sein. Ehrlich. Aber meine Stimme erlaubte es mir irgendwie nicht.
    Ich rief seinen Namen viel lauter, als ich eigentlich wollte.
    »Nanou«, sagte er. »Du bist ja richtig erwachsen geworden.«
    Das klang irgendwie traurig, als fände er es schade, dass ich mich verändert habe. Aber er selbst war immer noch der alte Roux – die Haare länger, die Stiefel sauberer, andere Klamotten, aber sonst genau derselbe, die Hände in den Taschen vergraben, so wie er das immer macht, wenn er irgendwo ist, wo er nicht sein will, aber er grinste mich an, um mir zu zeigen, dass es nicht meine Schuld ist und dass er mich, wenn Thierry nicht da gewesen wäre, einfach hochgehoben und durch die Luft gewirbelt hätte, so wie früher in Lansquenet.
    »Noch nicht ganz«, sagte ich. »Ich bin elfeinhalb.«
    »Elfeinhalb klingt schon ziemlich erwachsen, finde ich. Und wer ist die kleine Fremde?«
    »Das ist Rosette.«
    »Rosette«, sagte Roux. Er winkte ihr zu, aber sie winkte nicht zurück und machte auch kein Zeichen. Bei fremden Leuten tut siedas sowieso selten. Sie starrte ihn nur an, mit ihren großen Katzenaugen, so lange, bis Roux wegschauen musste.
    Thierry bot ihm Schokolade an. Roux hat früher immer sehr gern Schokolade getrunken. Er trank sie schwarz, mit Zucker und Rum, während Thierry mit ihm über geschäftliche Dinge redete, über London, über die Chocolaterie und die Wohnung.
    Ach ja. Die Wohnung. Wie sich herausstellt, renoviert Thierry sie und bringt sie in Schuss, damit wir einziehen können. Er hat das erzählt, als Roux dabei war: dass es ein neues Zimmer gibt für mich und Rosette und tollen Komfort und dass alles bis Weihnachten fertig sein soll, damit seine Mädchen es schön haben.
    Aber so wie er das sagte, klang es irgendwie gemein. Er lächelte, aber nicht mit den Augen. Genau wie Chantal, wenn sie über ihren neuen iPod redet oder über ihre neuen Klamotten oder ihre neuen Schuhe oder ihr Tiffany-Armband, und ich stehe nur dabei und höre zu –
    Roux stand da und sah aus, als hätte ihm jemand einen Kinnhaken verpasst.
    »Ich fürchte, ich muss jetzt gehen«, sagte er, als Thierry endlich den Mund hielt. »Ich wollte nur sehen, wie’s euch so geht, ich bin auf der Durchreise.«
    Lügner , dachte ich. Du hast deine Stiefel geputzt .
    »Wo wohnst du?«
    »Auf einem Boot«, sagte er.
    Das klingt logisch. Er mag Boote. Schon immer. Ich erinnere mich genau an sein Boot in Lansquenet, das Boot, das verbrannt ist. Ich weiß noch, was für ein

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