Himmlische Wunder
kamen, um die Kleine zu begrüßen, und die Heiligen Drei Könige, und wie sogar ein Stern über der Krippe stehen blieb.
»Weil sie nämlich ein besonderes Baby war«, sagt Anouk zu Rosettes Entzücken. »Ein ganz besonderes Baby, so wie du. Und du hast ja jetzt auch bald Geburtstag.«
Advent. Das heißt, dass bald irgendetwas Ungewöhnliches kommt. Der Begriff ist verwandt mit dem französischen Wort für Abenteuer, aventure . Derselbe lateinische Stamm. Über diesen Zusammenhang habe ich bisher noch nie nachgedacht, aber ich habe ja auch noch nie den christlichen Kalender befolgt, nie gefastet, nie Buße getan, nie gebeichtet.
Na ja, fast nie.
Aber als Anouk noch klein war, haben wir das Julfest gefeiert, wir haben Feuer angezündet, als Schutz gegen die immer länger werdende Dunkelheit, wir haben Kränze aus Stechpalmen und Mistelzweigen geflochten, haben gewürzten Cidre getrunken und Glühwein und heiße Kastanien vom offenen Rost gegessen.
Dann kam Rosette auf die Welt, und alles wurde anders. Verschwunden waren die Mistelkränze, die Kerzen und die Räucherstäbchen. Jetzt gehen wir in die Kirche und kaufen mehr Geschenke, als wir uns leisten können, und legen sie unter einen Plastikbaum und sehen fern und werden nervös, weil wir etwas Tolles kochen müssen. Die Weihnachtslichter mögen ja aussehen wie Sterne, aber bei näherem Hinsehen merkt man, dass alles gemogelt ist, sie hängen an schweren Drahtgirlanden und an Kabeln quer über die Straßen. Der Zauber ist weg – und hast du dir nicht genau das gewünscht, Vianne?, sagt diese spröde Stimme in meinem Kopf, die Stimme, die klingt wie meine Mutter, wie Roux und jetzt auch ein bisschen wie Zozie, die mich an die Vianne von früher erinnert und deren Geduld ich oft als eine Art Vorwurf empfinde.
Aber dieses Jahr wird wieder alles anders. Thierry liebt die bürgerlichen Traditionen. Die Kirche, die Weihnachtsgans, die Bûche de Noël – es wird ein Fest, an dem wir nicht nur Weihnachten feiern, sondern auch, dass wir zusammen sind und auch weiterhin zusammenbleiben wollen.
Keine Magie, klar. Aber ist das denn so schlimm? Stattdessen Sicherheit, Geborgenheit, Freundschaft und Liebe. Genügt uns das nicht? Waren wir nicht lange genug unterwegs? Ich bin doch mit Märchen aufgewachsen – weshalb fällt es mir dann so schwer, an ein Happy End zu glauben? Wie kommt es, dass ich, obwohl ich weiß, wohin er geht, immer noch davon träume, dem Rattenfänger zu folgen?
Ich schickte Anouk und Rosette ins Bett. Dann rannte ich hinter Roux und Thierry her. Es waren erst drei Minuten vergangen,höchstens fünf, aber als ich auf die Straße hinaustrat, wusste ich gleich, dass Roux weg war, untergetaucht in den Gassen von Montmartre. Trotzdem musste ich es versuchen. Ich ging zuerst in Richtung Sacré Cœur. Da entdeckte ich zwischen den Besucher- und Touristengruppen Thierrys vertraute Gestalt. Er strebte zur Place Dalida, die Hände in den Taschen, den Kopf vorgestreckt wie ein Kampfhahn.
Ich verlangsamte meinen Schritt, bog links in eine Kopfsteinpflastergasse ein, zur Place du Tertre. Keine Spur von Roux. Er war verschwunden. Klar war er verschwunden – warum hätte er auch auf mich warten sollen? Trotzdem blieb ich am Rand des Platzes stehen. Ich fror und horchte auf die Geräusche des abendlichen Montmartre: Musik aus den Klubs unterhalb der Butte , Gelächter, Schritte, Kinderstimmen von der Weihnachtskrippe auf der anderen Seite des Platzes, ein Straßenmusiker, der Saxofon spielte, Gesprächsfetzen, die der Wind mir zutrug –
Weil er sich nicht bewegte, fand ihn mein Blick. Pariser sind wie Fischschwärme – wenn sie auch nur einen Moment innehalten, sterben sie. Aber er stand reglos da, halb verdeckt, aber beleuchtet vom Abglanz eines roten Neonschilds in einem Caféfenster. Stumm blickte er um sich. Er schien auf etwas zu warten. Auf mich.
Ich rannte zu ihm, quer über den Platz, und fiel ihm um den Hals. Eine Sekunde lang hatte ich Angst, er könnte nicht reagieren. Ich spürte die Anspannung in seinem Körper, sah die Falte zwischen seinen Brauen. In der harten Beleuchtung sah er aus wie ein Fremder.
Doch dann schlang er die Arme um mich, zögernd zuerst, aber bald mit einer Heftigkeit, die gar nicht dem entsprach, was er sagte: »Du solltest nicht hier sein, Vianne.«
An seiner linken Schulter ist eine Kuhle, die genau zu meiner Stirn passt. Ich fand sie gleich und schmiegte meinen Kopf hinein. Er roch nach Nacht und Motorenöl,
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