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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Gesicht Roux gemacht hat, als das passiert ist. Er sah aus wie jemand, der sich mit aller Kraft für etwas eingesetzt hat – und dann kommt jemand und nimmt es ihm einfach weg.
    »Wo?«, fragte ich.
    »Auf dem Fluss«, sagte Roux.
    »Na, so was«, sagte ich. Eigentlich hätte er grinsen müssen. Und in dem Moment merkte ich, dass ich ihn gar nicht geküsst hatte – ich hatte ihn nicht mal umarmt zur Begrüßung. Ich bekamein ganz schlechtes Gewissen. Aber wenn ich es jetzt erst machte, sah es so aus, als wäre es mir gerade eingefallen und käme nicht von Herzen.
    Stattdessen nahm ich seine Hand. Sie war rau und kratzig von der Arbeit.
    Ich glaube, er war überrascht. Dann lächelte er.
    »Ich würde gern dein Boot sehen«, sagte ich.
    »Das lässt sich vielleicht arrangieren«, sagte Roux.
    »Ist es so schön wie dein letztes?«
    »Das musst du selbst entscheiden.«
    »Wann?«
    Er zuckte die Achseln.
    Maman schaute mich so an, wie sie mich immer anschaut, wenn sie sich über mich ärgert, es aber nicht zeigen will, weil andere Leute da sind. »Wie schade, Roux«, sagte sie. »Wenn du vorher Bescheid gesagt hättest … Ich habe nicht gewusst, dass –«
    »Aber ich habe dir geschrieben«, sagte er. »Ich habe dir eine Karte geschickt.«
    »Ich habe keine bekommen.«
    »Oh.« Ich merkte ihm an, dass er ihr nicht glaubte. Und ich wusste, dass sie ihm nicht glaubte. Roux ist der schlechteste Briefschreiber auf der ganzen Welt. Er nimmt sich fest vor zu schreiben, aber er tut es nie, und er telefoniert auch nicht gern. Stattdessen schickt er kleine Sachen mit der Post – ein geschnitztes Eichenblatt an einem Faden, einen gestreiften Stein vom Strand, ein Buch –, manchmal mit einem Zettel dabei, aber oft ohne ein einziges Wort.
    Er schaute Thierry an. »Ich muss los.«
    Ja, klar. Als ob er irgendwo einen wichtigen Termin hätte! Roux, der immer nur tut, was er will, der sich von keinem Vorschriften machen lässt. »Ich komme wieder.«
    Ach, du Lügner.
    Ich war plötzlich so sauer auf ihn, dass ich es fast laut rausgeschrien hätte. Warum bist du hier, Roux? Warum hast du dir überhaupt die Mühe gemacht, zu uns zurückzukommen?
    Ich sagte ihm das alles, aber nur im Kopf, mit meiner Schattenstimme, mit so viel Nachdruck, wie ich nur konnte, so wie ich mit Zozie gesprochen habe, an dem ersten Tag vor der Chocolaterie .
    Du Feigling , sagte ich noch. Du läufst doch nur wieder weg .
    Zozie hörte es. Sie schaute mich an. Aber Roux vergrub die Hände nur noch tiefer in den Hosentaschen und winkte nicht einmal, als er die Tür aufmachte und hinausging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Thierry rannte hinter ihm her – wie ein Hund, der einen Einbrecher verfolgt. Ich glaube nicht, dass Thierry sich je mit Roux prügeln würde – aber schon beim Gedanken daran kamen mir fast die Tränen.
    Maman wollte auch raus, aber Zozie hielt sie fest.
    »Ich mach das schon«, sagte sie. »Es ist okay. Bleib du hier bei Annie und Rosette.«
    Und schon war sie in der Dunkelheit verschwunden.
    »Geh schon mal rauf, Anouk«, sagte Maman. »Ich komme gleich nach.«
    Also gingen wir hoch und warteten. Rosette schlief ein, und nach einer ganzen Weile hörte ich, wie Zozie nach oben kam und wenig später auch Maman, ganz leise, um uns nicht zu wecken. Und schließlich schlief ich auch ein, aber ein paar Mal wachte ich auf, weil der Boden in Mamans Zimmer so laut knarrte, und ich wusste, sie ist immer noch wach, steht in der Dunkelheit am Fenster, horcht auf den Wind und hofft, dass er uns in Ruhe lässt.

3

    S ONNTAG , 2 . D EZEMBER
    Gestern Abend ging die Weihnachtsbeleuchtung an. Jetzt ist das ganze Viertel illuminiert, nicht bunt, sondern weiß, wie lauter helle Sterne über der Stadt. Auf der Place du Tertre, wo die Maler stehen, wurde die traditionelle Weihnachtskrippe aufgebaut, und das Jesuskind lächelt im Stroh, während Mutter und Vater es froh betrachten und die Könige mit ihren Geschenken dabeistehen. Rosette ist total fasziniert und will sie immer wieder anschauen.
    Baby , sagt sie mit den Fingern. Baby anschauen . Bisher hat sie die Krippe zweimal mit Nico besucht, einmal mit Alice, unzählige Male mit Zozie, mit Jean-Louis und Paupaul und natürlich mit Anouk, die fast genauso begeistert zu sein scheint wie ihre kleine Schwester. Immer wieder erzählt sie Rosette die Geschichte, wie das Baby (das in Anouks Version ein anderes Geschlecht hat als in der Bibel) im Stall geboren wurde, im Schnee, und wie die Tiere

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