Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
sein
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Eckhart Tolle
Thich Nhat Hanh, ein großer buddhistischer Meister, lehrt: „Achtsamkeit ist die Kraftquelle der Liebe. Sie ist ihr Fundament.“ Und er fragt: „Wenn Sie die Präsenz des anderen Menschen nicht wahrnehmen, wie können Sie ihn lieben?“ Die Antwort ist klar: Ich kann niemanden lieben, wenn ich ihn nicht wahrnehme. Aber mir scheint, man darf diesen Satz auch umdrehen: Liebe ist die Kraftquelle der Achtsamkeit. Oder vielleicht besser noch: Achtsamkeit ist eine Erscheinungsform der Liebe. Liebe und Achtsamkeit gehören zusammen. Wie sollte es auch anders sein, wenn es zutrifft, dass wir in der Liebe unserer Verbundenheit mit allem gewahr werden? Ich kann dich nicht lieben, ohne achtsam zu sein. Niemand kann lieben, ohne achtsam zu sein – und niemand kann achtsam sein, ohne in der Liebe zu sein. Achtsamkeit kann unser Herz öffnen und uns in die Liebe sinken lassen.
Die Liebe schärft meine Aufmerksamkeit; sie lässt mich achtsam für den anderen sein – behutsam, sanftmütig, vorsichtig, zärtlich. Sie lässt mich auch achtsam für mich selbst sein. Eigentlich wissen wir das alle. Als wir ein Paar waren, da fiel es mir auf, wenn du ein neues Parfum trugst; und du merktest treffsicher, wenn ich ein anderes Aftershave verwendete.Wir spürten, wenn ein Kummer in der Luft lag. Und du rochst gleichsam das Begehren in mir, wenn ich ins Bett mit dir wollte.
Wer liebt, der weiß: Es gibt diese erhöhte Sensibilität für den, der uns begeistert, für die, die uns hinreißt; wenn alle Antennen des Körpers auf Empfang geschaltet sind, wenn wir empfänglich sind für die Signale des/r Liebsten. Auch dann, wenn sie unbewusst gesendet oder ausgestrahlt werden. Und wir wissen auch, wie traurig und fad das Leben wird, wenn wir aus der Liebe heraustreten und in diese alltägliche Dumpfheit, diese Blindheit und Taubheit zurückkehren; wenn die Farben verblassen und die sprudelnde Kraft sich zurückzieht. Aber oft keimt zugleich die Sehnsucht, zu dieser Achtsamkeit und Präsenz zurückzufinden. Dann suchen wir die Orte, die uns einst berührten, die Gesichter, die uns einst bewegten. Nur: Wenn die Liebe fort ist, bleiben auch sie oft stumm und kalt.
Es sei denn, wir halten uns offen und üben uns in Achtsamkeit, schulen unseren Blick für ihre Schönheit, so dass der Pfeil des Eros uns neuerlich treffen kann. Denn das ist das Tröstliche, worauf Thich Nhat Hanh hinweist: Es gibt nicht nur den Weg von der Liebe in die Achtsamkeit – es gibt auch den Weg von der Achtsamkeit in die Liebe. Und dieser Weg steht uns offen. Wenn wir uns in das Leben verlieben wollen, dann können wir ihn gehen, indem wir uns in Achtsamkeit üben. Sobald wir auch nur einen Moment in die Liebe eingetaucht sind, wird sie uns immer neue Nahrung für das Feuer unseres Herzens schenken.
In der Liebe sein und achtsam sein: beide durchdringen sich wechselseitig. Und wo dies geschieht, da bekommt das Leben eine besondere Farbe, einen besonderen Ton. Die Alten nannten ihn
Sanftmut
, und auch wenn das Wort uns vielleicht nicht mehr so geläufig ist, so scheint es doch gut zu passen für diese besondere Stimmung. Denn wir sind sanfter, wenn wir lieben; wir sind behutsamer und vorsichtiger; vielleicht auch duldsamer und langmütiger, wie es in der Bibel heißt: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sielässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, […] sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“
(1. Korinther 13,4-7)
Der Grund dafür liegt wohl darin, dass die Liebe uns Menschen tatsächlich in die Gegenwart bringt: Was kümmerten mich meine unerledigten Aufgaben, als ich mir dir zusammen war? Was scherten mich meine Zukunftsängste, als ich deine Hand hielt? Wir waren ganz, gegenwärtig, präsent, im Hier und Jetzt. Wir waren einander verbindlich verbunden. Wir wussten, was gerade dran war – und das konnte sowohl ein beherztes Eingreifen sein als auch ein zärtliches Einander-Zuwenden. In Präsenz füreinander waren wir achtsam und spontan – achtsam in unserer empfänglichen Aufmerksamkeit füreinander, spontan im Ausdruck unserer Liebe. Wir konnten energisch sein, aber auch sanftmütig – ganz wie die Situation es erforderte.
Und die Sanftmut war es, die uns zärtlich sein ließ. Unsere Körper wollten sich wohltun, wir liebkosten
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