Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
passiv, rein empfänglich ist. Damit soll offenbar gesagt sein: Man kann die männliche und die weibliche Grundenergie des Eros nicht einfach 1:1 auf Männer und Frauen übertragen. Es gibt männliche und weibliche Männer, ganz so, wie es männliche und weibliche Frauen gibt. Ein jeder Mensch trägt die entsprechenden Anteile je für sich in seiner Seele. Entscheidend ist nur eines: Die männliche und die weibliche Energie müssen zusammenkommen – sie müssen sich gegenseitig ausbalancieren, soll Eros geboren werden und die Liebe in unser Leben treten. Und zwar im Leben eines jeden Einzelnen; wobei wir dafür immer die Menschen unserer Umgebung brauchen. Ich brauche deine männlichen ebenso wie deine weiblichen Anteile, um meine eigene Seele so auszugleichen, dass Eros in ihr geboren werden kann; und du brauchst meine männlichen und meine weiblichen Anteile, damit er sich bei dir heimisch fühlen kann. Je besser dieses Spiel des wechselseitigen Sich-Ergänzens funktioniert, desto sicherer kannst du sein, dass es zwischen Menschen „funkt“ und sie in ihr Herz und ihre Liebe finden.
Man könnte auch sagen: Der männliche Anteil der Kreativität und der weibliche Anteil der Empfänglichkeit sind die beiden Flügel des Eros. Nur wenn beide entwickelt und trainiert sind, wird Eros seinen Flug antreten können – nur dann werden wir auf seinen Flügeln zu einem guten, blühenden, vollen und vollkommenen Leben segeln können.
Aber, das darf ich nicht vergessen, dafür braucht es noch einen dritten Faktor: die Schönheit. Von ihr habe ich ja schon ausführlich geschrieben. Deshalb reicht hier ein kurzer Hinweis auf sie. Aber wichtig ist doch, dass Diotima sie „eine geburtshelfende Göttin“ nennt; womit sie wohlsagen will, dass die Zeugung des Eros eines Klimas der Schönheit bedarf. Nur vor ihrem Goldgrund, wenn man so will, können Poros und Penia den Eros zeugen. Was so viel heißt wie: Wir sollten uns ein Ambiente der Schönheit schaffen, um dann in einer solchen Atmosphäre unsere männlichen und weiblichen Anteile zu verbinden. Wo uns das gelingt, da öffnet sich das Herz, und Eros zieht darin ein. Das ist eine Lebensaufgabe, die – wie ich glaube – nie aufhört. Es ist schön, dass wir uns vorgenommen haben, sie gemeinsam immer aufs Neue anzugehen und zu lösen. Auch wenn das, weiß Gott, nicht immer einfach ist. Aber mir scheint trotzdem, dass sich der Sinn und Zweck einer Ehe eigentlich nicht besser beschreiben lässt als ein solcher lebenslanger Prozess der Verbindung des Männlichen und des Weiblichen in uns und zwischen uns.
Ohne Leere keine Fülle
Darum fang zuerst bei dir selbst an
und lass dich!
Meister Eckhart
Nun fragst du wahrscheinlich, was dieser alte Mythos von der Geburt des Eros mit deiner Frage zu tun, was du und ich tun können, um die erotische Lebensenergie immer neu zu wecken; auch da, wo die Mühen der Ebene wenig Gelegenheit zu erotischen Höhenflügen bieten; auch dann, wenn Eros nicht herbeigezwungen werden kann. Hm, ich glaube, die Geschichte von Diotima hat eine Menge damit zu tun, denn sie benennt deutlich die drei Ingredienzien, aus denen Eros gemischt ist: Schönheit, Empfänglichkeit, Kreativität. Und es scheint mir zuzutreffen, dass es deshalb vor allem zweierlei zu tun gibt: sich empfänglich halten für Schönheit; sich darum bemühen, Schönheit zu schaffen. Weil Ersteres laut Diotima das eher weibliche Geschäft ist, erlaube ich mir, damit anzufangen.
Was heißt Empfänglichkeit? Wohl nicht, sich auf den Rücken schmeißen und die Beine breit machen – eher, sich zurücklehnen und die Seele weit machen. Empfänglich bist du, wenn du dich öffnest, wenn du dich aufmachst, aufbrichst, aufmerkst. Empfänglich bist du, wenn du präsent bist – wirklich bei dir und deiner Umgebung; wenn du dich bewegen lässt, wenn du zulässt, dass das Leben dich etwas angeht, wenn du dich ansprechen, anregen, anstoßen lässt. Und vor allem, wenn du dich berühren lässt – auf allen Ebenen: körperlich, rational, emotional, geistig.
Sich körperlich berühren zu lassen, klingt dabei ziemlich einfach, ist es für viele Menschen aber keineswegs. In unserer coolen Welt ist die Fähigkeit, sich berühren zu lassen, weitgehend verloren gegangen. Sonst gäbe es keine Kuschelpartys oder Seminare, bei denen man für viel Geldlernt, wie es ist, berührt zu werden. Es ist in meinen Augen eine Tragödie, wenn Grundschullehrer(innen) ihre Schüler(innen) nicht mehr berühren dürfen
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