Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
– oder wenn man sich bei jeder Gelegenheit irgendwelche fiesen Plastikhandschuhe überziehen muss. Nein, sich berühren zu lassen ist alles andere als selbstverständlich.
Ich kenne das von mir selbst. Auch ich ertappe mich manchmal dabei, nicht berührt werden zu wollen. Und jedes Mal hat das seinen Grund darin, dass ich nicht präsent bin; dass ich von irgendeinem Thema getrieben bin, das mich von meiner Umgebung trennt. Du kennst das nur zu gut von mir; und von dir selbst, glaube ich, auch. Aber wir sind auch nur Kinder unserer Zeit, und mir scheint, dass wir in einer Welt leben, die es geradezu darauf angelegt sein lässt, Menschen unberührbar, unempfindlich zu machen. Allenthalben wird die Angst geschürt – die Angst vor Krankheiten, die Angst, missbraucht oder betrogen zu werden, die Angst vor Übergriffen. Diese Angst legt sich wie ein Stahlpanzer um unsere Herzen. Wir werden cool und abgeklärt, wir leben sicher, aber hinter hohen Mauern. Der Sinn für das Verbundensein mit unseren Mitmenschen geht so verloren, wir werden zu Elementarteilchen, die es verlernt haben, der elementarsten Form der Verbundenheit Ausdruck zu geben: uns zu berühren. Deshalb bin ich dafür, uns mehr zu berühren und berühren zu lassen; und dies vor allem unseren Kindern als etwas ganz Normales zu vermitteln. Wissen wir doch nur zu gut, dass Kinderseelen verkümmern, wenn Kinderkörper nicht berührt werden. Kurz: Wir brauchen alle mehr Zärtlichkeit und Berührung.
Aber was machen wir mit denen, die das nicht wollen oder können? Wie können wir sie zurückbringen zu den elementarsten Formen des Empfänglich-Seins, des Sich-berühren-Lassens? Sollen wir sie alle ins Tantra-Seminar schicken? Nichts gegen Tantra, aber ich glaube, das allein hilft nicht weiter. Ich glaube, wir müssen da ansetzen, wo die Menschen zunächst mal sind: im Kopf, in ihren Mustern, Morallehren, Vorstellungen. Wir müssen sie darin unterweisen, aus ihren ständig kreisenden Gedanken ins Hier und Jetzt zu kommen. Und dafür gibt es – den spirituellenMeistern sei Dank – jede Menge gute Instrumente, Techniken, Tools. Wie du schätze ich Thich Nhat Hanh sehr. Seine Übungen der Achtsamkeit, die alle nur darauf angelegt sind, ganz ins Hier und Jetzt zu finden, die gedanklichen Muster wie Kleider abzulegen, um sich nackt für die Gegenwart des Seins empfänglich zu halten – finde ich gut und hilfreich; überhaupt alle diese Mediationsformen, bei denen es darum geht, innerlich leer und frei zu werden, ganz gleich ob sie nun Zen oder sonst wie heißen. Aber nicht um ihrer selbst willen, sondern als wunderbare Übung der Empfänglichkeit – als Schulung des inneren Sich-Leerens, Sich-Öffnens, Aufbrechens.
Natürlich kann das auch auf anderem Wege geschehen: beim Wandern, beim Sport oder bei deiner geliebten Handarbeit. Egal: Worauf es ankommt, ist diese innere Klarheit, diese innere Ruhe des Geistes, die es erlaubt, sich das Leben wirklich etwas angehen zu lassen. Alles, was den Geist sammelt, beruhigt, leert, ist gut, um dann offenen Herzens und reinen Sinnes in die Welt zu treten und sich von deren Schönheit ansprechen und anrühren zu lassen. Ich glaube, es gibt nichts anderes, was der erotischen Liebe und Kraft des Herzens so sehr den Weg bahnt wie dieses innere Leer-Werden und In-die-Präsenz-Kommen; außer vielleicht dem, was du so liebst: dem äußeren Leer-Werden, dem Reduzieren, dem Sich- Besinnen aufs Wesentliche, um sich von all dem zu trennen, was eigentlich kein Mensch braucht. Wirklich in die Fülle kommen – das habe ich von dir gelernt – bedeutet nicht zuletzt, die Fülle des Überflüssigen abzubauen und sich der Dauerbeschallung, dem Dauerkonsum, der Dauerverköstigung zu entziehen.
Aber noch einmal: Es ist, scheint mir, nicht damit getan, dass du dich leer machst und dann in vollkommener Ruhe auf deinem Kissen sitzt (oder wo auch immer). Die innere Leere ist nach meinem Verständnis nicht nur eine Freiheit
von
(Gedanken, Mustern, Konzepten), sondern vor allem eine Freiheit
dazu
, Schönheit wahrzunehmen, von Schönheit angerührt zu werden, sich der unendlichen Schönheit hinzugeben, die wir nur mit dem Herzen zu erkennen vermögen. Will sagen: Dem Abschalten desKopfes muss ein Hinschauen des Herzens entsprechen. Beides zusammen ergibt Hingabe, die vielleicht schönste Tugend des erotisch gestimmten Menschen. Wobei eben auch der Hingabe zwei Aspekte eignen: das, was du abgibst, und das, wohin du dich gibst. Das, was du abgibst,
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