Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
einleuchten, dass der Sinn unseres Lebens sich darin erfüllt, zu Lebzeiten zu Gott zu werden. Plausibler erscheint es mir, mit Leib und Seele, in voller Blüte Mensch zu sein.
Daher rührt meine Skepsis. Ich sehe immer wieder, dass Menschen Erleuchtungs- oder Gotteserfahrungen machen, die zu wiederholen und zu vertiefen sie anschließend zur Mitte ihres Lebens machen. Sie fühlen sich spirituell sehr reif und fortgeschritten, übersehen dabei aber, dass sie in Wahrheit in ihrem Entwicklungsprozess stagnieren. Denn Erleuchtungserlebnisse führen oft dazu, dass Menschen sich der Dynamik des Eros verschließen, dass sie sich nicht vom Eros in die Tiefe ihrer Seele und der Welt locken lassen, sondern stattdessen auf der Ich-Ebene verharren. Das ist immer dann der Fall, wenn sie stolz auf ihre Erfahrungen blicken und sich dadurch aufgewertet fühlen. Doch bei näherer Betrachtung verbirgtsich hinter diesem spirituellen Stolz zumeist ein unsicheres, ängstliches Ich, das sich vertrösten und beruhigen lassen möchte. Es braucht die Gewissheit, dass nicht alles aus ist, wenn es stirbt. Es hat Angst vor dem Tod und starrt wie gebannt auf die Erleuchtungserfahrung, die ihm diesen Geschmack von Unendlichkeit und Ewigkeit gewährt hat – diesen Duft der All-Einheit und umfassenden Liebe, der aus der vierten Dimension unseres Bewusstseins zu uns herüber weht.
Wenn spirituelle Schulen darauf abheben, den Menschen einen geraden und direkten Weg aus dem Ich in die Erleuchtung zu weisen, dann betreiben sie das, was man
Spiritual Bypassing
nennt: Unter Umgehung der seelischen Dimension schlagen sie die Brücke direkt aus dem Ich in den Geist. Was dann dahin führt, dass ihre Anhänger zwar von tiefen und schönen Erlebnissen berichten können, dabei jedoch kein Auge für ihre eigenen Schattenanteile haben und kein Auge für ihr Verbundensein mit allen anderen Wesen. Ihr Ich sieht sich vielmehr der Aufgabe entledigt, anderen Menschen oder sich selber in Liebe zu begegnen. Und so verharren sie im Erleuchtungsstolz und sind froh, sich nicht ihrer Seele (und dem Leben) ausliefern zu müssen – weil das eben auch wehtun kann. Stattdessen lechzen sie nach der nächsten Einheitserfahrung und weisen alles von sich, was sich ihnen dabei in den Weg stellt. Sie werden zu dogmatischen Asketen und lehnen das irdische Dasein in seiner aus Chaos und Ordnung gemischten Mannigfaltigkeit ab. Sie wissen sich nicht verbunden, weil sie nicht ins Leben verliebt sind. Sie sind nicht in der Liebe, und weil sie nicht in der Liebe sind, fühlt sich ihre Spiritualität oft so fahl und hohl an. Sie sind erleuchtete Egos, aber keine Seelen – strahlende Oberflächen ohne Tiefe und ohne Herz. Schade.
Das
Spiritual Bypassing
erscheint mir aber nicht nur deshalb problematisch. Fragwürdig ist es in meinen Augen vor allem deshalb, weil es die erotische Entwicklung blockiert. Es festigt letztlich die Strukturen des sich ewig ängstigenden Ich und ist darin um keinen Deut besser als die schlechte alte kirchliche Theologie, die dem zitternden Ich ewigen Fortbestand im Jenseits als Belohnung für moralisches Wohlverhalten in Aussichtstellte. So oder so wird der Weg in die Tiefe verstellt – so oder so wird der Aufbruch des Herzens verhindert, und das Leben kommt nicht zur Blüte seiner selbst. So skurril es klingt: Ekstatische Gipfelerlebnisse können nach meinem Eindruck dazu führen, dass Menschen sich gerade nicht ins Leben verlieben.
Das geschieht zumeist dann, wenn mystische Erfahrungen nicht durch eine weise, reife, gewachsene Spiritualität und Philosophie ins Leben integriert, sondern um ihrer selbst willen gesucht werden. Was gar nicht so schwer ist, denn natürlich kann man Erfahrungen der vierten Dimension (anders als das Sich-Verlieben) aus eigenen Stücken herbeiführen; etwa durch den Konsum bewusstseinserweiternder Drogen wie LSD, Ecstasy, psychoaktiver Pilze oder anderer Substanzen oder durch gezieltes Bewusstseins-Training. Zweifellos lassen sich auf diese Weise tiefe Erfahrungen generieren. Aber solange diese Erfahrungen nicht behutsam in die Lebenswirklichkeit vermittelt werden, tragen sie nichts dazu bei, innerlich zu reifen und in die Liebe zu finden. Im Gegenteil: Voreilig erleuchtete Menschen ziehen sich aus dem Leben zurück, beenden ihre Beziehungen, kappen Verbindungen und entledigen sich aller Verbindlichkeiten. Ein reifes und blühendes Leben sieht anders aus.
Überraschenderweise habe ich das blühende Leben wohl aber bei solchen
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