Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
sich milliardenfach immer aufs Neue: Weil er Mensch sein will. Weil er, der Eine, die Mannigfaltigkeit will. Weil er, das Leben, sich vereinzeln will, um Gemeinschaft zu erleben. Weil er, die aus sich fließende Agape, die unermessliche Kraft des Eros erleben will. Weil er, der die Liebe ist, das Leiden der Trennung erlernen will. Kurz: Weil er, Gott, Mensch sein will.
Deshalb sehe ich mich dazu aufgerufen, das in mir angelegte Potenzial meiner Seele zur Blüte zu bringen. Deswegen möchte ich Mensch sein – einer, „dem es genügt, ein Mensch zu heißen“ (Lessing). Ich begehrenicht, Gott zu sein. Ich muss nicht ein Erleuchteter sein, ein Avatar oder was weiß ich. Aber ein Mensch möchte ich sein, einer der menschlich liebt und menschlich leidet, menschlich lacht und menschlich weint; einer der ganz Körper, ganz Ich, ganz Seele ist. Ich möchte wahrer Mensch sein, so wie Jesus wahrer Mensch war. Aber ich möchte auch wahrer Gott sein: grenzenlos lieben, eins sein mit allem, frei von den Schatten der Angst und des Leids. Ja, ich möchte auch in der vierten Dimension sein – zuweilen –, weil auch das zum ganzen, voll erblühten Mensch-Sein gehört; weil der Mensch auch Gott sein kann. Weil das, was von Jesus gesagt ist, zuletzt von uns allen gilt und uns als Ziel vor Augen steht: Wahrer Mensch und wahrer Gott, reifes Individuum und unendliches Bewusstsein, Eros und Agape.
Und eben das gefällt mir an unserem christlichen Erbe: Es ist eine Einladung zum wahren Mensch-Sein. Wir dürfen darin Wasser in Wein verwandeln, ebenso wie wir im Vertrauen auf die unendliche Lebenskraft der Liebe sterben können. Wenn Christentum irgendeinen Sinn macht, dann für mich den, das menschliche, inkarnierte Leben als den Ort zu feiern, an dem Gott zu sich kommen und sich manifestieren will. Deshalb: Verliebe dich ins Leben! Mehr bedarf es nicht! Verliebe dich ins Leben und ziehe ein ins Reich Gottes. Dann wirst du dreifaltig lieben: Gott, deinen Nächsten, dich selbst; dann wirst du Gottes innigsten Wunsch erfüllen: wahrer Mensch zu sein.
Ich will damit nicht sagen, dass andere Religionen uns nicht dorthin bringen können. Nein, ganz und gar nicht. Denn nach allem, was ich im Gespräch mit den Weisen anderer Traditionen in Erfahrung gebracht habe, lehren sie alle die Liebe als den Weg zur Wahrheit. Und das finde ich wundervoll. Nur haben es leider auch die weniger Weisen aller Traditionen fertiggebracht, diese Weisheit durch ihre Gebilde aus Angst und Schrecken zu vertuschen. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir unermüdlich das Gespräch und den liebevollen Austausch mit Menschen anderer religiöser Herkunft suchen. Nur im erotischen Spiel von Frage und Antwort wird die verborgene Dimension Gottes wirklich aufleuchtenund die Herzen öffnen. Himmel, wie schön es doch wäre, wenn unser interreligiöser Dialog zu einem Tanz der Liebenden Gottes würde! Wären wir Verliebte ins Leben, wir sähen uns mit den Augen des Herzens und sprächen mit der Poesie der Seele. Ich weiß, dass das utopisch klingt. Aber ich weiß auch, dass tief in eurer Seele die Erinnerung aufbewahrt ist, die sagt: Als ich mich verliebt hatte, war alles möglich!
Ich glaube, am Ende stehen wir vor der Wahl. Was wollen wir? Wollen wir Ich sein? Oder wollen wir Seele sein? Oder wollen wir Gott sein? Ich für meinen Teil habe diese Frage entschieden. Ich möchte wahrer Mensch sein, weil ich nur so auch wahrer Gott sein kann. Ich möchte ein Leben führen, in dem ich ganz der bin, der ich sein kann, und indem ich das lebe, was durch mich hindurch leben möchte. Ich wünsche mir ein Leben, in dem ich die Liebe (von der es heißt, dass Gott sie sei) manifestiere. So wie es der Überlieferung nach in der Gestalt Jesu geschehen ist.
Deswegen heißt Christ-Sein für mich: sich ins Leben verlieben. Sich ins Leben verlieben ist für mich das Christlichste was es gibt. Und das heißt, das Leben annehmen, es feiern – mit Haut und Haar, mit Leib und Seele, mit Sex und Spiritualität; es heißt auch, mich offenherzig selbst den dunklen Abgründen des Lebens (und meiner Seele) auszuliefern und das ganze Leben mit dem großen Ja des Eros anzunehmen; aber auch beherzt und entschlossen Nein zu sagen, wo dieses große Leben sich gegen sich selbst wendet. „Liebe, nur Liebe, wir haben sonst kein Werk“, sagt Rumi. Umfassend. Alles. Auch das Dunkle meiner Selbst sowie das, was im Leben da draußen geschieht. Wo mir das gelingt, da bin ich ein erwachsener,
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