Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
Gott, der die Liebe ist, sich im vollsten Sinne des Wortes inkarnieren möchte. Und ich bin davon überzeugt, dass es für die Zukunft der christlichen Religion äußerst fruchtbar wäre, wenn sie die sinnlich-erotische Seite der Liebe bis in ihre sexuelle Dimension hinein wieder als Teil des göttlichen Inkarnationsgeschehens würdigen könnte. Denn mir scheint, dass viele Menschen den Kirchen fernbleiben, weil die Sehnsucht ihres Herzens nach körperlichem Ausdruck dort kaum Resonanz findet. Das ist die andere Seite der Medaille unserer pornographisierten Kultur: Die von allen guten Geistern verlassene Sexualität korrespondiert mit einer von allen gutenSinnen verlassene, erosfeindliche Religiosität. Eros fehlt hüben wie drüben. Volle Bordelle und leere Kirchen sind Symptome der gleichen Katastrophe: der Erosion des Eros.
Deshalb meine ich, dass wir die durch die erotische Liebe gestiftete Zusammengehörigkeit von Sexualität und Spiritualität wiederentdecken müssen. Sonst wird das Leben arm und fad. Und dafür braucht es eben als integralen Teil der erotischen Lebenskunst eine erotische Spiritualität, die sich weder der geistig-nondualen Dimension des Lebens verschließt, noch der körperlich-sexuellen Facette unseres Daseins.
Was nun Letzteres betrifft, so bedarf es dafür sicher einer hohen erotischen Reife. Sexualität als heilige Handlung ist nichts für Anfänger, denn das setzt voraus, dass zwei sehr bewusste, sehr erfahrene, sehr integrierte Seelen miteinander verkehren, die sich selbst durchsichtig geworden sind, weil sie ihre Schatten aufgearbeitet haben und einander frei, ohne Begehren, ohne das Haben-Müssen des Ich begegnen können; Seelen, die sich ihrer innigsten Verbundenheit bewusst sind und ihr achtsam und bewusst körperlichen Ausdruck verleihen wollen. Diese Begegnung atmet dann eine hohe, liebende Präsenz, sie ist absichtslos und frei. In ihr feiern zwei Seelen ihre körperlich Nähe als ein Geschenk des Lebens.
Nicht zufällig hat seit wenigen Jahrzehnten im Westen der Tantrismus immer mehr Anhänger und Anhängerinnen – auch wenn Tantra hier mit wenigen Ausnahmen fast ausschließlich körperlich-sexuell und wenig spirituell betrachtet wird. Vielen Menschen fällt es offenbar leichter, sich einer exotischen, östlichen Lehre und Praxis zu verschreiben als ihren eigenen, westlichen Wurzeln, die sie oft gar nicht kennen. Denn wer ahnt schon, dass das Christentum bei Lichte besehen eine zutiefst erotische Religion ist? Wer weiß noch etwas von der erotischen Kultur der Griechen? Dieses alte Wissen ist in der westlichen Kultur – allen zaghaften Versuchen in der Renaissance, im Rokoko und in der Romantik zum Trotz – verloren gegangen.
Sowohl in der erotischen Lebenskunst als auch im Tantrismus geht es in der Essenz darum, eine entspannte, bewusste, achtsame Lebensform zu entwickeln, in der das Feuer des Eros lodert. Bei beiden geht es darum, einen spirituellen Weg zu beschreiten, der zu der bewussten Erfahrung des Göttlichen auf dem Weg über und durch die Sinne einlädt. Es geht um die entspannte Haltung aus dem Herzen heraus und in der Akzeptanz von dem, was jetzt gerade ist und wie es sich zeigt. Das kann in der Sexualität sein, aber auch in allen anderen Lebensbereichen. Und mir scheint, dass uns allen mehr davon durchaus guttäte. Damit wir den „Sinn und Geschmack des Unendlichen“ wieder erlernen: damit wir das Aroma der göttlichen Liebe schmecken und fühlen und lernen, uns in der dauernden Präsenz Gottes aufzuhalten – überall: in der Meditation genauso wie beim Liebesspiel; so dass das Leben ein Gottesdienst wird – ein immerwährendes Weilen vor dem Antlitz des Allmächtigen.
Wahrer Mensch
und wahrer Gott
Und der Mensch heißt Mensch
weil er irrt und weil er kämpft
und weil er hofft und liebt,
weil er mitfühlt und vergibt
und weil er lacht
und weil er lebt,
du fehlst
.
Herbert Grönemeyer
Mein Freund Willigis Jäger wirft in seinen Vorträgen immer wieder diese eine, grundstürzende Frage auf: Warum sind wir da? Was ist der Sinn von uns Eintagsfliegen auf einem Staubkorn am Rande des Universums? Niemand hat uns vermisst, bevor wir kamen, und niemand wird uns vermissen, wenn wir gegangen sind. Was soll das Ganze?
Wollt ihr meine Antwort hören? Weil der liebe Gott in genau dieser individuellen Seele, die ich bin, das Leben erfahren wollte – und zwar ganz und gar, mit allem Drum und Dran. Deshalb hat er sich auch in mir inkarniert; deshalb inkarniert er
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