Hinreißend untot
»Verstehst du nicht? Er hat mich diesmal nicht gefunden. Ich bin zu ihm zurückgekehrt, zu einer bestimmten Person. Weil ich dachte, dagegen ankämpfen zu können. Aber ich habe mich geirrt.«
Ich musste nicht fragen, wenn er meinte. Louis-Cesar, Leihgabe des Europäischen Senats für die Konsulin, war Tomas’ Herr. Er hatte Tomas’ früheren Herrn, den verhassten Alejandro vor hundert Jahren in einem Duell besiegt und dann Anspruch auf ihn erhoben. Tomas war ein Meister der ersten Stufe, aber selbst solche Vampire waren unterschiedlich stark, und gegen Louis-Cesar konnte er einfach nichts ausrichten. Er war nie in der Lage gewesen, die neuen Fesseln zu zerreißen.
Tomas schauderte leicht. Ich sah es nicht, spürte aber sein Zittern. »Ich habe ihn in jedem Moment gehört, eine unaufhörliche Stimme, die tief in meinem Kopf erklang und mich halb verrückt machte! Ich konnte mich nie entspannen, nicht für einen Augenblick. Die ganze Zeit über wusste ich: Wenn ich in meiner Konzentration nachgelassen hätte, wäre mein Wille zerbrochen, und dann wäre ich wie ein getretener Hund zurückgekrochen. Ich habe gehofft, dass ihn der Krieg ablenkt, dass ich dadurch die Freiheit erlange. Aber dann bin ich in der Arrestzelle des Senats erwacht, und ein Wächter sagte mir, ich wäre gekommen und hätte mich ergeben. Ohne dass ich mich daran erinnere, Cassie!« Er erbebte heftiger, und ich fühlte es ganz deutlich. »Er zog mich wie eine Marionette zu sich. Und das wird er wieder machen.« Ich war verwirrt. »Du meinst, er ruft dich jetzt?«
Tomas’ Lippen verzogen sich zu einem glückseligen Lächeln. »Nein. Es scheint am Feenland zu liegen – seit unserer Ankunft höre ich ihn nicht mehr. Dass ich ihn nicht abwehren muss, hat mir bei der Heilung geholfen, weil ich meine ganze Kraft dafür nutzen kann. Als sein Ruf auf mir lastete, konnte ich geringere Verletzungen in nicht weniger als einer Woche heilen, doch diese Wunden sind bereits geschlossen.«
»Hier hörst du ihn nicht?«
»Zum ersten Mal seit hundert Jahren bin ich frei von ihm«, sagte Tomas voller Ehrfurcht, als könnte er es kaum glauben. »Ich habe keinen Herrn.« Er sah mich an, und sein Gesicht zeigte eine feurige Freude.
»Viereinhalbjahrhunderte lang bin ich Sklave gewesen! Die Stimme meines Herrn kontrollierte mich völlig, und ich dachte, ich würde nie die Freiheit kosten.« Staunend sah er sich in der feuchtkalten Zelle um. »Aber hier gelten unsere Regeln offenbar nicht.«
Ich spürte, wie meine Augen zu brennen begannen. »Ja, das ist mir bereits aufgefallen.« Wenn unsere Magie hier funktionsfähig wäre, hätte Mac die Baummänner fertiggemacht. »Was ist?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht daran denken und erst recht nicht darüber reden, doch plötzlich strömte alles aus mir heraus. Weniger als eine halbe Stunde brauchte ich, um Tomas zu erzählen, was seit unserer letzten Begegnung geschehen war. Es erschien mir irgendwie falsch, dass so viel Schmerz in so wenigen Worten zusammengefasst werden konnte. Was Tomas aber offenbar nicht verstand.
»McAdam war ein Krieger. Er kannte die Risiken. Das gilt für euch alle.« Ich sah ihn niedergeschlagen an. »Ja, und deshalb hätte er nicht mit uns kommen sollen. Das hat der Plan nie vorgesehen.«
Tomas zuckte mit den Schultern. »Pläne ändern sich in der Schlacht. Das weiß jeder Krieger.«
»Du hast ihn nicht gekannt. Sonst wärst du nicht so … gleichgültig!«, sagte ich scharf.
In seinen Augen blitzte es. »Ich bin nicht gleichgültig, Cassie. Der Magier half dabei, mich hierher zu bringen, fort vom Senat. Ich verdanke ihm viel und werde ihm meine Dankbarkeit nie zeigen können. Aber wenigstens kann ich sein Opfer ehren, ohne sein Ansehen zu schmälern.«
»Ich schmälere sein Ansehen nicht!«
»Wirklich nicht?« Tomas sah mir in die Augen. »Er war ein alter Krieger. Er hatte Erfahrung und Mut, und er wusste, was er wollte. Er starb für etwas, an das er glaubte – für dich. Du tust ihm keinen Gefallen, wenn du seine Entscheidung jetzt infrage stellst.«
»Seine Entscheidung brachte ihm den Tod! Er hätte daheim bleiben sollen.« Und ich hätte mich allein auf die Suche nach Myra machen sollen. Ich hatte gesagt, es sollte niemand mehr wegen mir sterben, und jetzt gab es ein weiteres Opfer auf meiner Liste. »Es wäre besser gewesen, wenn er nicht an mich geglaubt hätte.«
»Warum?«, fragte Tomas mit aufrichtiger Verwirrung.
Ich lachte bitter und halb hysterisch.
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