Hinreißend untot
»Weil meine Nähe eine Garantie für Ärger ist. Du solltest das wissen.« Tomas hatte selbst genug Probleme, aber ich fragte mich, ob er die gleichen schlechten Entscheidungen getroffen hätte, wenn er mir nicht begegnet wäre.
Er schüttelte den Kopf. »Du übernimmst für zu viel die Verantwortung, Cassie. Nicht alles ist deine Schuld. Nicht alle Schwierigkeiten warten darauf, dass du sie aus dem Weg räumst.«
»Ich weiß!« Aber so sehr ich mich auch dagegen sträubte, ich fühlte mich für Macs Tod verantwortlich. Er war meinetwegen ins Feenland gekommen. Er war meinetwegen verwundbar gewesen, und letztendlich war er meinetwegen gestorben.
»Tatsächlich?« Tomas schlang den Arm um mich. »Dann hast du dich verändert.« Warme Lippen strichen mir übers Haar. »Vielleicht sehe ich die Dinge klarer, weil ich länger Krieger bin.«
»Ich bin kein Krieger.«
»Das dachte ich auch einmal von mir. Aber als die Spanier zu unserem Dorf kamen, kämpfte ich zusammen mit den anderen um das Getreide, das uns durch den Winter bringen würde. Damals verlor ich viele Freunde, Cassie. Der Mann, der wie ein Vater für mich gewesen war, wurde gefangengenommen, und weil er nicht verraten wollte, wo wir unsere Ernte versteckt hatten, verfütterten ihn die Spanier an die Hunde, Stück für Stück. Dann verschleppten sie die Frauen und brannten das Dorf nieder.«
Er sprach so ruhig und sachlich darüber, dass ich ihn groß anstarrte. Tomas lächelte traurig. »Ich ehrte seinen Kampf, indem ich dafür sorgte, dass unsere Gruppe zusammen und frei blieb.«
Er unterbrach sich, und ich wusste warum. Es war eins der wenigen Dinge in seinem Leben, von denen er mir erzählt hatte. Alejandro hatte schließlich zu Ende gebracht, was die Konquistadoren begonnen hatten, indem er Tomas’ Dorf bei einer Art Spiel vernichtete. Die ganze Geschichte hatte ich nie gehört, nur einzelne Teile, aber es genügte mir. Ich wollte nicht, dass er es noch einmal durchlebte.
Ich wechselte das Thema. »Louis-Cesar bezeichnete deine Mutter als Adlige. Wie kamst du in das Dorf?«
»Nach der Eroberung gab es keine Adligen und Bürgerlichen mehr. Man war entweder Europäer oder gar nichts. Meine Mutter war Priesterin des Sonnengottes Inti und hatte geschworen, ihr Leben lang keusch zu bleiben, aber nach dem Fall von Cuzco nahm ein Konquistador sie als Beute. Sie hatte erwartet, ehrenvoll behandelt zu werden, nach den Regeln des Krieges, doch er wusste nichts von unseren Bräuchen und hätte sich auch nicht darum geschert, wenn sie ihm bekannt gewesen wären. Er war ein einfacher Bauernsohn aus Extremadura, der sein Glück machen wollte, und das Wie war ihm gleich. Sie hasste ihn.«
»Wie entkam sie?«
»Niemand hielt es für möglich, dass sie im siebten Monat schwanger eine drei Meter hohe Mauer erklettern konnte, und deshalb wurde sie nicht richtig bewacht. Sie floh, hatte aber kein Geld, und durch ihre Schändung wurde sie zu einer Ausgestoßenen. Was allerdings kaum eine Rolle spielte. Der Tempel war geplündert, das ganze Land von Krankheit und Krieg verwüstet. Sie verließ die Hauptstadt, in der die Spanier untereinander kämpften, doch auf dem Land standen die Dinge nicht besser.« Tomas lächelte bitter. »Die Spanier vergaßen, dass man Gold nicht essen kann. Die meisten Bauern, die nicht gestorben waren, hatten die Flucht ergriffen. Überall herrschte Hunger. Getreide wurde wertvoller als die Schätze, nach denen die Konquistadoren gierten.«
»Aber deine Mutter fand ein Dorf, das sie aufnahm?«
»Sie versteckte sich in der Chullpa ihrer Familie, in einer Krypta, in der Nahrungsmittel und Opfergaben für mumifizierte Vorfahren zurückgelassen wurden, und ein Palastdiener fand sie dort. Er hatte sie lange geliebt, doch die Priesterinnen galten als Ehefrauen von Inti. Sex mit ihnen bedeutete ein schreckliches Verbrechen. Die Strafe dafür bestand darin, nackt an eine Mauer gekettet und dem Hungertod überlassen zu werden.«
»Und deshalb himmelte er sie aus der Ferne an?«
Tomas lächelte. »Aus großer Ferne. Doch als er von ihrer Flucht erfuhr, machte er sich sofort auf die Suche nach ihr. Er überredete sie dazu, ihn zum Dorf seiner Familie zu begleiten. Es war fast fünfzig Meilen von der Hauptstadt entfernt und so klein, dass sie hofften, die Spanier würden es übersehen. Dort lebten sie zusammen, bis ich acht war und meine Mutter an Pocken starb, wie viele andere Bewohner des Dorfes.«
»Das tut mir leid.« Offenbar gab es keine
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