Hinter blinden Fenstern
ihm noch gesagt, er soll aufpassen, daß er sich nicht erkältet. Sinnlos, wissen Sie. Er ist nie erkältet gewesen. Wir beide nicht. Pumperlgesund. Schauen Sie, wie meine Hand zittert. Ob ich noch ein Glas trinken soll? Gut, daß die Psychologin nicht mehr hier ist, die hätt es mir bestimmt verboten.«
Als sie gegen halb eins in der Nacht vom Klassentreffen zurückgekommen war, hatten Karin Mora vor dem Haus ein Streifenpolizist und eine Frau angesprochen, eine Mitarbeiterin des Kriseninterventionsteams der Polizei, die dann bis zum frühen Morgen bei ihr blieb. Allerdings redete Karin Mora weniger mit ihr als mit Hauptkommissarin Esther Barbarov, wobei sie keine Einzelheiten über den Tathergang erfahren, sondern offensichtlich nur plaudern und belanglose Anekdoten vom vergangenen Abend weitererzählen wollte. Die Psychologin berichtete hinterher, sie habe selten eine Witwe erlebt, die nach dem gewaltsamen Tod des Ehemanns anfangs zwar phasenweise von Trauer überwältigt schien, alles in allem jedoch kontrolliert und auf eine gewisse Weise sogar zwanghaft gleichgültig reagiert habe wie Karin Mora.
»Stimmt das?« sagte Micha Schell, der seit einer Weile an seine kleine Tochter denken mußte, die allein zu Hause war, weil er eigentlich dienstfrei und nicht mit einem Einsatz gerechnet hatte. »Sie haben jemandem beim Klassentreffen ein Geschenk mitgebracht?«
Überrascht blickte sie auf. »Wer sagt denn das? Woher wissen Sie das?«
»Ihr Mann hat im Club darüber gesprochen«, sagte Schell. Nicht nur er, auch Polonius Fischer wunderte sich über die heftige Reaktion. Schweigend warteten sie ab.
Karin Mora ließ den Blick nicht vom beschmutzten Glas, zwei Minuten lang. Dann sah sie zur Tür, in einem Anflug trauriger Erschöpfung. »Ach«, sagte sie leise. »Ach ja.« Sie stemmte sich in die Höhe, holte Luft und ging in den Flur hinaus.
Die beiden Männer sahen ihr hinterher, hörten das Rascheln einer Plastiktüte. Mit einem rechteckigen, in gelbes Papier eingeschlagenen Päckchen kam Karin Mora zurück. Sie setzte sich auf die Couch, strich mit zuckenden Mundwinkeln über das Geschenk und hielt es Fischer hin.
»Auspacken«, sagte sie.
Fischer legte seinen Block und den Kugelschreiber auf den Tisch und zog die Klebestreifen vom Papier. Karin Mora ließ ihn nicht aus den Augen.
Ein grauer Plastikbehälter kam zum Vorschein, mit einem Klappverschluß an der Seite. Fischer schüttelte und wog ihn in den Händen. »Darin bewahrt man Wurst oder Käse im Kühlschrank auf«, sagte er. »Wem schenkt man so etwas?«
»Niemandem«, sagte Karin Mora, nahm ihm den Behälter aus der Hand, öffnete ihn und holte eine belegte Semmel heraus. »Mein Proviant fürs Klassentreffen. Zwei Semmeln, eine mit Käse, eine mit gekochtem Schinken. Wenn Cornelius mitgekriegt hätt, was ich da mach, wär er böse geworden. Aber ich wollte kein Geld für Essen ausgeben, wir müssen sparen jetzt, und da hab ich überlegt, ich pack die Schale wie ein Geschenk ein, und wenn er mich fragt, für wen das ist, sag ich den Namen einer Freundin. Im Gasthaus sind wir dann aber alle vom Wirt eingeladen worden, der ist nämlich der Mann einer meiner früheren Klassenkameradinnen, das wußte ich nicht. Die beiden haben uns alle eingeladen, und wir waren zu zwanzigst. Das war sehr nett. Also hab ich die Schale wieder mitgebracht. Die Semmeln sind ganz lätschert geworden, ich eß sie heut abend, falls ich einen Hunger habe. Guter Trick, oder nicht?« Sie legte die Semmel zu der anderen, klappte den Verschluß zu und stellte den Behälter behutsam neben das Schnapsglas.
Nach einem langen Schweigen sagte Fischer: »Hat Ihr Mann Sie nicht gefragt, für wen Sie das Geschenk mitnehmen?«
»Doch. Ich hab ihm einfach keine Antwort gegeben. Mir ist nämlich nicht gleich ein Name eingefallen.« Sie senkte den Kopf und schüttelte mit einem Seufzer den Kopf.
»Halt den Zug auf«, sagte Fischer. »Haben Sie den Ausspruch schon mal gehört?«
»Bitte? Nein. Möglicherweise in einem Bahnhof, da sagt man so was schon mal. Warum?«
»Sind Sie und Ihr Mann in letzter Zeit verreist?«
»Dafür haben wir kein Geld. Außerdem …« Sie tippte auf den Rand des Glases. »Den Zug kann man nicht aufhalten. Der fährt weiter und kümmert sich nicht um die Zurückbleibenden. Der läßt sich nicht beirren, der Zug.«
Fischer wartete, bis sie bemerkte, daß er sie ansah. »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich gern einen kurzen Psalm zitieren«, sagte
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