Hinter blinden Fenstern
drückte ihren neunundvierzigjährigen, schmächtigen, vor sich hin murrenden Lieblingsmann so lange an ihren Busen, bis er wehrlos zum Vergnügen bereit war.
Ohne ihn hätte sie die Zeit vor und nach dem Prozeß vermutlich nicht durchgestanden.
Ohne ihn hätte sie die Zeit vor und nach Dinahs Tod bestimmt nicht durchgestanden.
Und ohne ihn wäre sie von Bert nie losgekommen.
Ohne Hans wäre sie heute vielleicht eine Hausfrau in einem Häuschen am Chiemsee, eine geblümte Ehefrau in einem gepflegten Garten, die sich von ihren geblümten Nachbarinnen in ihren noch viel gepflegteren Gärten nur dadurch unterschied, daß sie bei den regelmäßigen Nachbarschaftstreffen mehr Alkohol vertrug als andere und am Ende des Abends von vor Eifersucht glühenden Megären umgeben wäre, weil deren Männer ihre Blicke nicht hatten zügeln können.
Für so ein Leben hätte Dinah sie zuerst verlacht und dann verachtet.
Bert hatte ihr seine Pläne in allen Einzelheiten dargelegt. Wieder und wieder beschrieb er mit schönsten Worten die Vorzüge des zweistöckigen, zweihundertfünfzig Quadratmeter großen Landhauses, das seine Eltern, offenbar wohlhabende Apotheker, ihm vererbt hatten. Er spendierte Champagner, erheiterte Clarissa und ihre Kolleginnen mit Anekdoten aus seinem Dorf, wo er als Bub aufgewachsen war, und ließ Clarissa tatsächlich für einige Stunden den Schmerz vergessen, in dem sie wie in einem lichtlosen Kerker hauste.
Das Zimmer war immer hell, wie mit glitzerndem, verheißungsvollem Schnee ausgekleidet. Als würde gerade die Kindheit beginnen. Dinah wollte es so. Und sie war doch noch ein Kind, ein kleines Mädchen in einem viel zu großen Bett.
Jedesmal, wenn Clarissa hereinkam, leise, ohne Schuhe, in Dinahs selbstgestrickten feuerroten Socken, dachte sie im ersten Moment, jemand habe ihre Freundin gegen ein Kind getauscht, und es schlafe heiter und still.
Und Clarissa stellte sich vor, wie Dinah durch die Stadt spazierte, schön und beschwingt, und auf dem Rückweg eine Tüte mit frischen Leberkässemmeln vom Meyerling mitbrachte, die sie am liebsten mochte. Dann aßen sie in trauter Runde und zwickten sich in die Hüften und amüsierten sich über ihre Geschlechtsgenossinnen, die glaubten, der Verzehr von Salatblättern förderte ihre Attraktivität. »Leberkässemmeln essende Frauen sind erotisch«, sagte Dinah zu den neuen Mädchen in der Lucy, »Salatblätter essende Frauen sind bloß geschminkte Kühe, merkt euch das.« Und sofort verschlang sie eine zweite Semmel mit süßem Senf, leckte jeden Finger einzeln ab, strich mit der Zunge über ihre Lippen, massierte sich sanft den Bauch und rief: »Ich bin soweit.« Dann klatschten alle.
Und es kam Clarissa so vor, als wäre das verrauchte, karge, ein wenig schmuddelige Hinterzimmer ein wunderbarer Stall voller übermütiger Hühner, deren Zukunft kein Mann, kein Mensch zerrupfen und zerstören könnte.
Und es war kein Mann, kein Mensch, der Dinah eines Nachts vor neun Jahren zerstörte und zerrupfte. Es war ein unsichtbares Monster, es war ein Tier, neidischer als alle Frauen, gehässiger und erbarmungsloser, und es ließ ihr nicht einmal Zeit zu hoffen. Das Monster verschlang ihre Hoffnung in der ersten Nacht. Und als Dinah längst im Zimmer in der Anhalter Straße lag, weil sie es so wollte, begriff Clarissa noch immer nicht, wieso das Monster ihrer Freundin nicht wenigstens eine Hoffnung gelassen hatte, etwas zum Abbeißen in der Nacht, wie eine Leberkässemmel.
Das Zimmer muß so weiß sein, sagte Dinah, wie mein Blut weiß ist, dann schmelz ich wie Schnee, und es wird Frühling wie früher.
Und Clarissa hielt ihre winzige Hand und sah zum Fenster, zur neugekauften weißen Gardine und der Vase mit den elf weißen Rosen und dachte an den Vertrag, den sie gemeinsam unterschrieben hatten, und an das Haus in Berg am Laim, in dem ihre Zukunft beginnen sollte. Und sie dachte an die vergangenen acht Jahre, in denen sie sich beinah aus den Augen verloren hatten, aber dann doch nicht. Und sie wandte den Kopf ab und sah hinunter auf das in verzweifeltem Staunen erstarrte Gesicht ihrer besten Freundin, die dreiunddreißig Jahre alt und ein Mädchen war, bleich und dürr und verhärmt, als hätte sie sich ihr Leben lang von Salatblättern ernährt.
In der letzten Nacht legte Clarissa sich zu ihrer Freundin ins Bett und weinte in Dinahs weit aufgerissene Augen hinein.
Und Dinah blinzelte und leckte sich die Lippen und schmatzte ein wenig und zitterte
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