Hinter blinden Fenstern
er.
Unbewußt faltete sie die Hände im Schoß.
»Der Herr ist mein Hirte«, begann Fischer.
Zwar hatte Micha Schell schon davon gehört, daß der ehemalige Benediktinermönch Polonius Fischer, der seit vierzehn Jahren im Kommissariat III arbeitete, bei Vernehmungen gelegentlich die Bibel zu Hilfe nahm, aber er war noch nie dabeigewesen. Und nie hätte er gedacht, Fischer würde die Stellen auswendig aufsagen.
Nun fühlte Schell sich unbehaglich, auch ein wenig eingeschüchtert. Er wußte nicht, wohin mit seinen Händen, und klemmte sie schließlich unter die Oberschenkel.
Fischers Stimme klang so bestimmt wie immer.
»Nichts wird mir fehlen. Er läßt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen, er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muß ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir, ein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang, und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.«
Karin Mora strich über ihren Rock und sah zur Tür. »Ja. Aber heut nacht hatte der Herr wohl Ausgang. Er hat nicht aufgepaßt auf meinen Mann. Und ich auch nicht. Güte und Huld. Kann man immer brauchen. Ich koch uns jetzt einen Kaffee, und dann möcht ich, daß Sie mir was über diese Frau erzählen. Damit ich versteh, warum mein Mann unser Geld bei der gelassen hat. Ich will soviel wie möglich von der Frau erfahren. Ich will wissen, warum mein Mann sich vor der Frau nackt ausgezogen hat. Ich will das verstehen. Ich will das verstehen.«
Angeklagt wegen Körperverletzung mit Todesfolge, verteidigte die sechsundvierzigjährige Clarissa Weberknecht, Geschäftsführerin des Club Dinah im Stadtteil Berg am Laim, im Prozeß vor dem Schwurgericht München I ihre Unschuld am Tod des Ladeninhabers Cornelius Mora. Wiederholt wies sie darauf hin, daß der Mann fahrlässig die bei solchen »Behandlungen« üblichen Sicherheitsregeln verletzt und sich auf diese Weise selbst in Lebensgefahr gebracht habe.
Nach vier Verhandlungstagen vor vollbesetzten Zuschauerbänken, auf denen auch zwei unscheinbare Frauen in grauen Mänteln und mit dicken Brillengläsern saßen, verurteilte der Vorsitzende Richter Lutz Zimmermann die Barbesitzerin zu zwei Jahren Gefängnis. Da Clarissa Weberknecht keine Vorstrafen aufzuweisen habe und trotz ihrer jahrelangen Tätigkeit im Milieu nie auffällig geworden sei, werde das Urteil zur Bewährung ausgesetzt, erklärte Zimmermann. Eine formelle Entschuldigung bei der Witwe lehnte Clarissa mit der Begründung ab, sie habe sich nichts vorzuwerfen.
In der Nacht nach der Urteilsverkündung, an einem Freitag im November, herrschte im Club Dinah Hochbetrieb. Wegen Überfüllung mußte Mika dreißig Gäste wegschicken, unter ihnen einen Mann, der seit mehreren Monaten die Ermordung von Clarissas Lebensgefährten Hans Fehring plante.
4 Etwas zum Abbeißen in der Nacht
E in Jahr später, am Sonntag, 23. September, verließ Clarissa um halb fünf Uhr morgens als letzte den Club und fuhr mit ihrem roten Mazda MX 5 in ihre Wohnung in der Anhalter Straße 14 im nördlichen Stadtteil Milbertshofen. Für den Abend hatte sie eine Verabredung, von der ihr Lebensgefährte nichts wußte.
Sie schlief bis kurz vor eins, badete und stellte sich nackt ans Fenster zum Innenhof, ohne hinauszusehen. Gedankenverloren trank sie eine Tasse Kaffee, schaltete die Lampe mit dem Keramikschirm auf dem Fensterbrett ein, zupfte an den Blättern der Topfpalme, strich sich über den Bauch und ging zurück ins Schlafzimmer. Sie zog eine weite Jeans und einen grauen Wollpullover an, keine Unterwäsche.
Wie jeden Sonntag, wenn es nicht gerade schüttete oder schneite, spielte Hans Fehring mit Freunden an der Isar Fußball, manchmal kehrten sie anschließend in einem Gasthaus ein und versumpften. Gestern hatte Hans zwar davon gesprochen, er müsse dringend noch umfangreiche Steuerunterlagen zweier Klienten fürs Finanzamt fertig machen, aber Clarissa rechnete nicht damit, daß er früher nach Hause kommen würde. Im Moment hatte er wieder eine seiner Aushäusigkeitsphasen, in denen er sein Alter vergaß und sich hinterher wunderte, wieso der Bierkonsum ihn derart schlauchte und in eine trübsinnige Stimmung versetzte. Kasperl, du, sagte Clarissa dann zu ihm und
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