Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
glaubst du, mache ich das?«, fragt Magnus. Wir beide gucken uns an und ich ahne, was er meint, denn ich fühle dasselbe, aber ich traue mich nicht es zu sagen, weil da ein kleiner, aber heißer Funken Angst in meinem Herzen brennt, der sagt, dass ich mich vielleicht irre. Nicht, was meine Gefühle betrifft. Ich weiß, dass ich Magnus liebe, obwohl ich ihn gerade auch ein bisschen hasse. Der Nagel an meinem Mittelfinger ist bis zum Nagelbett abgekaut.
»Dass hat noch nie ein Freund zu mir gesagt«, murmle ich und kaue auf dem Nagel vom Ringfinger weiter.
»Normalerweise antwortet man darauf so etwas wie ›Ich liebe dich auch‹, aber bei dir wundert mich nichts.«
»Doch, doch!«
»Was doch?«
»Auch, meine ich …«, krächze ich. Meine Stimme bricht weg.
»Schaffst du es, alle drei Wörter auf einmal auszusprechen?«, fragt Magnus und zieht die linke Augenbraue hoch. Ich habe das Gefühl, auf einem Marktplatz öffentlich die Hosen runterzulassen. Ich hole Luft und presse beim Ausatmen ein »Ich liebe dich« heraus. Dann werfe ich mich auf Magnus, um ihn zu küssen. Er drückt seine Lippen ganz fest auf meine.
Bevor ich Magnus kennengelernt habe, wollte ich mich nicht fest an jemanden binden, deshalb habe ich keine Erfahrung mit Liebeserklärungen. Nicht, weil ich glaubte, dass da noch was Besseres kommen würde, sondern weil ich immer damit rechnete, dass der andere sowieso früher oder später Schluss machen würde. Keine Ahnung, ob das etwas damit zu tun hat, dass sich mein Vater umgebracht hat, aber ich will die Anzahl von Leuten, die ich verlieren kann, überschaubar halten. Warum ich ausgerechnet Magnus traue? Ist einfach so.
»Vielleicht hast du recht«, sage ich zu Magnus. Für die Zukunft ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wichtig, aber mein Abschlusszeugnis ist es genauso. Zwar ist ein Diplom heutzutage keine Garantie mehr für die von meiner Mutter stets gepredigte »finanzielle Unabhängigkeit«, aber ich weiß, dass sie einen Tobsuchtsanfall bekommen würde, wenn ich jetzt alles hinschmeiße.
Magnus stöhnt erleichtert auf und reibt sich mit den Fingerknöcheln die Augen. Er bemerkt den Kratzer von vorhin und lutscht das geronnene Blut von seinem Handrücken ab. »Komm, lass uns raus ins Grüne fahren und einen Spaziergang machen. Heute Abend schauen wir weiter. Sag vorher noch einmal, dass du mich liebst.«
»Sollte man mit diesen Worten nicht sparsam umgehen?«
»Liebe ist doch kein Klopapier. Die kann man nicht aufbrauchen.«
Mein Hals brennt.
»Ich liebe dich«, sage ich, diesmal ein bisschen mutiger.
»Hab keine Angst, Sunny. Ich verlasse dich nicht.«
Als ich mich am Abend wieder an den Computer setze, sind alle Sitzplätze für den Flug nach Phnom Penh ausgebucht. Ich könnte nur noch ein Ticket für die Business Class kaufen. Ein Wink des Schicksals, wenn man so will. Vorerst. Ich fahre den Rechner runter und knipse die Lampe auf dem Schreibtisch aus. Noch ein paar Minuten sitze ich im Dunkeln, starre aus dem Fenster auf die leere Straße und spüre ebenfalls nichts als Leere in meinem Körper. Magnus lehnt im Türrahmen.
»Alles in Ordnung?«, fragt er mich.
»Eines Tages fahre ich dahin.«
»Besteh deine Prüfung, dann machen wir Urlaub.«
»Dann aber ohne Bedingungen«, sage ich geknickt.
Magnus pflückt mich vom Stuhl, nimmt mich Huckepack und trägt mich ins Bett.
In der Nacht wache ich auf, weil Magnus in mein Ohr schnarcht. Sein Arm liegt über meinem Bauch, so schwer, dass ich nicht weg kann. Vergeblich zähle ich Schäfchen. Auf dem Tisch neben dem Bett liegen mein alter Walkman und die Kassette meines Vaters mit dem Meeresrauschen, die ich von zu Hause mitgenommen habe. Ich setze den Hörer mit den Schaumstoff-Ohren auf und drücke auf die Play-Taste. Man hört ein lautes Rauschen, das ist die Brandung. Dann hört es auf und nur der Wind pfeift. Nach ein paar Minuten setzt das Rauschen wieder ein. Es klingt so, als ob die Wellen größer und dann wieder kleiner werden. Dann ist es ruhig und nur der Wind singt. Nach einer Pause geht es wieder los. Ein kleines Rauschen, das zu einem Getöse wird und dann abklingt. Ich verstehe, was meinem Vater daran gefiel: Es ist ein Rhythmus.
Weil das mit dem Einschlafen immer noch nicht klappt, stelle ich mir vor, was passiert wäre, wenn ich den Flug nach Phnom Penh gebucht hätte. Wo und wie hätte meine Reise angefangen, was hätte ich in meinen Koffer gepackt?
Der Himmel ist von grauen Wolken bedeckt und es
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