Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Jetzt merke ich, wie schwer es all die Jahre war, so tapfer zu sein.
Aber es war gut, in Lingen auszusteigen. Man soll dahin gehen, wo der Schmerz ist. Einige der Soldaten, die im Gegensatz zu meinem Großvater die Landung der Alliierten am D-Day überlebt haben, fahren viele Jahre nach Kriegsende erneut in die Normandie, um sich den Ort des Geschehens noch einmal anzuschauen und dann ihren Frieden damit zu schließen. Bei unserem Besuch waren meine Mutter und ich damals auch auf einem amerikanischen Soldatenfriedhof in Colleville-sur-Mer, der oberhalb von Omaha Beach direkt am Meer liegt. Auf dem grünen Rasen stehen Tausende Kreuze und Davidsterne aus schneeweißem Marmor. Der Friedhof ist beeindruckend und ebenso traurig wie schön. Als wir umherliefen, sahen wir, wie ein alter Mann von seinen Verwandten in einem Rollstuhl über den Rasen geschoben wurde. Bei einem Kreuz stemmte er sich aus seinem Gefährt hoch, trat mit wackeligen Schritten auf den Rasen und ging auf die Knie – so wie ich in dem Keller in Lingen. Ich würde mir nicht anmaßen zu behaupten, dass das, was ich als Kind erlebt habe, so schlimm wie der Zweite Weltkrieg war. Aber vielleicht ist es egal, warum man traurig ist. Was zählt, ist, dass man traurig ist. Ich konnte den Opa so gut verstehen, wie er da weinte. All die Jahre lief mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich den Namen der Stadt gehört habe, in der das alles passiert ist. Habe ich meinen Frieden mit Lingen geschlossen? Ja, denn mein Vater war krank und hätte sich überall das Leben nehmen können.
Ein Punkt auf meiner Liste ist mit dem Besuch abgehakt, man könnte sagen, überstanden. Jetzt muss ich mich auf meine Abschlussarbeit konzentrieren, immerhin ist in dreieinhalb Wochen Abgabe und eine Woche später findet die Präsentation statt – wäre da nicht noch diese eine Sache, die mir durch den Kopf geht, seit ich mit Caro die Fotos aus Khao-I-Dang angeschaut habe. Ich spüre nicht nur das Bedürfnis, dort hinzufahren und mir die Gegend anzuschauen, in der mein Vater gearbeitet hat, sondern auch, dass ich etwas tun will. Egal, ob mein Vater in einer manischen Phase war oder nicht: Er wollte den Menschen helfen und hat auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland für die Khmer-Flüchtlinge weiter Geld gesammelt. Kambodscha ist immer noch bitterarm. Möglicherweise kann ich sein Erbe nicht nur bewahren, indem ich seine Dias und den Projektor hüte, sondern auch, indem ich mich für dieses Land engagiere. Dafür muss ich aber hinfahren.
Wäre da nicht diese verdammte Arbeit! Sie nervt mich, dabei wird es nicht schwer werden: Die Theorie über Selbstmord als Kulturphänomen kann ich in einem Stück runterschreiben, da habe ich bereits eine Menge recherchiert. Als praktischen Teil will ich eine Reportage über die Beerdigung eines Selbstmörders machen: die von Thorsten. Seine Geschichte muss erzählt werden, nicht nur, weil sie herzzerreißend ist, sondern weil sie wie jeder Suizid etwas Grundlegendes über den Menschen aussagt. Erstens be- antwortet ein Selbstmord die laut Albert Camus wichtigste Grundfrage der Philosophie: Lohnt sich das Leben oder lohnt es sich nicht? Und zweitens: Wie lautet meine Antwort?
Selbstverständlich werde ich Magnus vorher fragen, ob er das in Ordnung findet, wenn ich über Thorsten schreibe. Am besten mache ich es sofort. Ich versuche, ihn zu erreichen, aber mein Handy hat auf der Strecke keinen Empfang. Auch gut: Dann starre ich wenigstens nicht dauernd auf das Display, weil ich Sorge habe, wieder einen fürsorglichen Anruf oder eine SMS zu verpassen. Es bleibt mehr Zeit für mich, um die Dinge sacken zu lassen.
Es wird dunkel, ich muss in Rheine umsteigen und werde ein paar Stunden später in Berlin sein. Draußen sehen die Lichter der Häuser in den Dörfern wie kleine Kerzen aus, sie leuchten warm in der Dunkelheit. All diese Häuser sind für jemanden ein Zuhause. Auch wenn es nur kleine Lichter sind, sind sie so wichtig.
Als ich am Abend in Berlin aus dem Zug steige, lehnt Magnus eingepackt in seinen dunkelblauen Parka und eine tief ins Gesicht gezogene Strickmütze an einem Fahrscheinautomaten und isst einen Burger. Ich renne zu ihm und stolpere dabei über die schwere Tasche und meine eigenen Füße. Er stößt mich weg, anstatt mich zu umarmen. So ruppig war er noch nie zu mir. Wird das unser erster Streit? Statt Hallo zu sagen, grummelt er: »Soll ich Madame gleich weiter zum Flughafen bringen?«
»Warum bist du sauer?«
»Weil
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