Hinter dem Mond
hatten Lammkoteletts mit Bratkartoffeln und grünen Bohnen gegessen. Sie mussten den ganzen Herd reinigen und den Küchenboden wischen. Ich hatte also etwas Zeit.
Papa war sehr schlecht gelaunt. Die Regierung hatte ein neues Gesetz erlassen, dass er eine bestimmte Anzahl an Kassenpatienten im Monat gratis behandeln müsse, um die islamische Regierung in seiner Funktion als Arzt zu unterstützen. Und erst ab dem fünfhundertsten Patienten dürfe er abrechnen. Kein Arzt hatte Lust, die islamische Regierung zu unterstützen. Das hatte zur Folge, dass die Ärzte generell keine Kassenpatienten mehr akzeptierten und sofort Cash verlangten. Mein Vater fand das scheiße, weil die Leute zum Teil so entsetzlich arm waren und er sich mies fühlte, ihnen das bare Geld aus der Tasche zu ziehen, er es sich aber andererseits auch nicht leisten konnte, den halben Monat umsonst zu arbeiten.
Ich setzte mich zu ihm.
»Papa …«, fing ich an. Ich lächelte lieblich, aber er schaute mich nicht an. Er spielte mit seinem Weltempfänger, um einen Sender mit Informationen über die wahre Lage im Iran zu finden.
»Ich brauche einen neuen Skianzug, der alte ist aus Polyester, und ich habe den ganzen letzten Winter gefroren. Er ist von C&A«, sagte ich schnell.
MeinVater verachtete Polyester, C&A und generell schlechte Qualität. Und er fand Frieren asozial. Nur die Unterschicht trägt bei Kälte unangemessene Kleidung, sagte er immer.
Er schüttelte lahm den Kopf.
»C&A aschghale«, meinte er nur.
»Ja, total aschghal«, sagte ich schnell. »Der Wind bläst durch die Jacke … aber ich habe heute im Skiladen einen Superanzug gesehen, der mir passt und warm ist! Daunen!«
»Daunen chube«, sagte mein Vater emotionslos. »Und was willst du jetzt von mir?«
Aus der Küche hörte man meine Mutter mit Massume sprechen und mit den Töpfen und Pfannen klappern.
»Geld. Er kostet zweitausend, und ich habe nur tausend.«
Das stimmte. Ich hatte etwas über tausend Toman in meinem Zimmer gehortet, die ich bereit war, für diesen guten Zweck zu opfern.
Er holte seinen Geldbeutel raus, nahm einen Haufen Geldscheine und gab sie mir.
Der Anblick der vielen schmutzigen, abgewichsten Scheine mit dem bärtigen Turbangesicht Chomeinis darauf machte mich plötzlich sehr glücklich.
»Danke!«, rief ich übertrieben devot.»Ich kaufe ihn morgen und zeige ihn dir.«
Aber mein Vater interessierte sich gar nicht mehr für mich. Er war ganz woanders.
Nach dem Skikurs im Februar und noch vor den langen Nowruz- und Osterferien im März machte sich in unserer Schule das Gerücht breit, die Regierung wolle nächstes Jahr Auslandsschulen generell verbieten, damit an allen Schulen im Iran derselbe Stoff unterrichtet wird, und zwar mit Arabisch als erster Fremdsprache.
»Nein, das machen die nicht«, sagten meine Eltern. »Es gibt so viele Kinder hier, die so wie du kaum Farsi sprechen, geschweige denn Arabisch lernen können. Die wollen nur etwas Panik verbreiten.«
Die anderen Eltern sagten dasselbe. Aber unsere Lehrer waren ernsthaft besorgt. Keiner von ihnen wollte das göttliche Leben in Teheran aufgeben und zurück in eine beengte Lehrer-Existenz nach Deutschland. Unsere Schule hatte mit Grundschule, Kindergarten, Real- und Hauptschulzweig mehr als 1500 Schüler. So ähnlich sah es vermutlich an den ganzen anderen Elite-Auslandsschulen aus, die alle aus allen Nähten platzten. Wo sollten diese Schüler hin?
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass unsere Schule schließen könnte. Die Schule war trotz allem meine heile Welt, verglichen mit dem, was draußen war, und mit den Schulmauern hörte irgendwie auch mein Horizont auf in diesem Land. Es war wie eine Insel in der dunklen Wüste, wo es Licht, Wasser, Essen und Freunde gab. Ich hatte mit der Außenwelt und den Eingeborenen keinen Kontakt geschlossen, die Menschen draußen waren schon immer wie Außerirdische und jetzt seit der Existenz der islamischen Regierung noch mehr. Ohne Schule wäre ich verloren und würde zugrunde gehen. Oder ich müsste in ein Internat nach Deutschland. Aber ich wollte mir die Katastrophe lieber nicht ausmalen, irgendwie war es gerade gar nicht so übel in Teheran. Ich hatte einen Haufen Freunde, eine beste Freundin, die genauso stark war wie ich, genauso mutig und dieselben Möglichkeiten hatte. Wir machten viel zusammen, und es war immer was los. Freitags fuhren wir mit unseren Bussen nach Dizin oder Shemshak zum Skilaufen und hatten schon während der Fahrt einen
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