Hinter dem Mond
bestellt, nur für mich nicht. Die Schuhe kamen in meiner letzten Ballettstunde vor unserer Abreise im Tanzstudio an. Alle Mädchen rissen mit glänzenden Augen die kleinen Kartons auf und zogen die harten rosa Satin-Dinger an. Einige kamen mit ihren dicken Wollsocken gar nicht hinein und dachten, sie hätten sie zu klein bestellt, bis die Lehrerin ihnen sagte, sie sollten die ollen Socken ausziehen. Den Mädchen zuzusehen, wie sie, vibrierend vor Aufregung, die Spitzenschuhe anprobierten, ohne selber welche zu haben, machte mich fertig. Noch nie hatte ich mich in meinem neunjährigen Leben so wertlos und nicht dazugehörig gefühlt wie an jenem Tag. Alle hatten Spitzenschuhe und würden bald wie verrückt Spitze tanzen, nur ich hatte keine bekommen und musste stattdessen in ein fernes Land, wo ich gar nicht hinwollte und was es in meiner Wahrnehmung überhaupt nicht gab. Ich war noch Tage danach richtig unglücklich wegen der Spitzenschuhe, denn Ballet war das Einzige, wofür es sich meiner Meinung nach überhaupt lohnte, ein Mädchen zu sein.
Trotzdem konnte ich es natürlich nicht abwarten, endlich erwachsen zu sein, um mich auch so schön anzumalen, Minikleider aus gehäkelter Spitze anzuziehen wie meine Mutter und dazu sehr hohe weiße Stiefel, die bis zum Knie vorne geschnürt waren. Jetzt hatte sie einen Morgenmantel an und nur einen Slip und BH darunter. Es war Juni und ziemlich warm im Schlafzimmer, denn meine Mutter verabscheute die Air-Condition und machte sie nicht an. Die Einzige, die das Ding den ganzen Tag laufen ließ, und deren Zimmer kalt wie ein Gefrierschrank war, war ich. Aber ich machte dann sehr oft meine Balkontür auf, um etwas warme Luft hereinzulassen, weil mir zu kalt wurde, bis jemand zufällig in mein Zimmer kam und anfing, entrüstet zu schreien.
Jetzt nahm sie einen Föhn in die Hand und föhnte sich ihre Mähne genauso, wie die Frisur der Frau des Hauptdarstellers in einer meiner Lieblingsserien: Lindsay Wagner in »The Six Million Dollar Man«. Meine Mutter war eine beeindruckende Schönheit, das wusste sie, und ich wusste es auch. Ich wusste es allein schon deshalb, weil ich die Reaktionen kannte, sobald ich mit ihr irgendwo war. Vor allem, wenn ich irgendwo war, wo es andere Mütter gab. Meine Mutter war nur neunzehn Jahre älter als ich, also nicht nur die Schönste und Schickste, sondern auch die Jüngste. Und irgendwie gefiel ich mir in der Rolle, das schreckliche Anhängsel dieser feinen Frau zu sein, die es gewohnt war, bewundert zu werden. Ich hatte nur selten das Bedürfnis, sie positiv zu beeindrucken, oder so zu sein, wie sie sich mich als Tochter wünschte, so wie andere Kinder es mit guten Noten oder durch Hilfe im Haushalt taten. Ich kam im Traum nicht darauf, etwas gegen meinen Willen zu tun, nur um meine Eltern glücklich zu machen. Ich wollte sie viel lieber bei ihrem Erwachsenendasein beobachten, meine Mutter vollquatschen und ansonsten von ihnen eher in Ruhe gelassen werden. Liebevoll für mich gekochtes Essen war mir allerdings sehr wichtig, genau wie ein großzügiges Taschengeld, was mir ungefragt hingelegt werden sollte, und die Macht über meinem eigenen Fernseher. Meine Pflicht bestand für mich im Gegenzug darin, meine Eltern mit meiner bloßen Anwesenheit und intelligentem Geplauder zu beglücken. Leider sahen es meine Eltern nicht so.
Mein Vater benutzte in letzter Zeit immer öfter das Wort »schwer erziehbar«. Ich wusste nicht, was es bedeutete, ich dachte, das war einfach nur, weil man mir oft Dinge mehrmals sagen musste. Ich wurde immer mehr das Gegenteil von dem, was sie glücklich gemacht hätte. Meine Mutter liebte strenge Zopffrisuren und spießige Kleider an kleinen Mädchen. Deshalb hatte ich auf allen Fotos immer eine bescheuerte Zopffrisur und etwas Lächerliches an. Wenn ich so aussah wie immer, also wie ich selbst, fotografierte sie mich nicht, sondern sagte: Geh dich erst mal kämmen. Ich kämmte mich aber nie und erlaubte ihr nur unter Androhung von Gewalt, meine langen schwarzen Hippiefransen anzufassen. Ich wusch mich nur selten, eigentlich nie freiwillig, und hatte meistens meine zerrissenen Lieblings-Nietenjeans und ein verwaschenes Shirt an. Die meisten Mädchenkleider fand ich uncool. Nur peinliche Streber sahen so aus, wie sich meine Mutter mich gewünscht hätte. Vielleicht hatte sie so einen komischen Geschmack, weil ihre Eltern sich früh getrennt und sie in ein italienisches Nonnenkloster gesteckt hatten, was sie schwer
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