Hinter dem Mond
sonst würde sie denken, ich hätte Angst vor ihr, ich war aber nur schockiert wegen des neuen Asterix-Hefts. Der blaue Brief war mir egal, die Schule berührte mich nicht weiter. Ich hatte keinen Ehrgeiz und wollte niemandem etwas beweisen. Meinen Eltern nicht, den Lehrern nicht und den anderen Schülern schon gar nicht. Aber ich kannte meine Mutter so nicht. So einen Ausbruch hatte sie vorher noch nie gehabt. Sie schrie mich noch ein letztes Mal an:
»Ich lasse mich nicht deinetwegen von allen auslachen! Susan hat nur Einsen!«
Und dann rauschte sie raus und knallte die Tür hinter sich zu, zum Glück. Meine Scheiß-Cousine mit ihren Scheiß-Einsen.
Ich lehnte mich zurück und begann mir heftige Sorgen zu machen. Es war völlig klar, dass ich sitzenbleiben würde, egal, wie viel ich ab jetzt lernen würde. Was mir fehlte, war die Lust, überhaupt etwas aufzunehmen, meine Lücken im Unterrichtsstoff waren wie die Ozeane auf der Landkarte und nie zu schließen. Ich hatte von nichts eine Ahnung und wusste in den meisten Fächern noch nicht einmal, was in den letzten Wochen unterrichtet worden war. Dazu kam, dass in allen Fächern alle Klassenarbeiten schon geschrieben waren und Herr Lies mich nicht mochte. Er hatte einmal vor allen in der Klasse zu mir gesagt: »Jeder Schüler, der aus Deutschland kommt, hat hier erst einmal Schonzeit, aber du solltest deine Schonzeit nicht ausnutzen.« Ich war erschrocken, als er das zu mir sagte, und sich die Köpfe der anderen zu mir umdrehten und mich alle ansahen, als hätte ich einem Kind heimlich das Pausenbrot gestohlen. Ich fand es unerträglich, wie spießig die anderen waren. War »Schonzeit ausnutzen« nicht etwas ganz Normales?
Jedenfalls lag ich mit klopfendem Herzen auf meinem Bett und traute mich nicht zu bewegen, um die Asterix -Schnipsel aufzusammeln, vor lauter Angst, meine Mutter könnte das spüren und noch einmal hereinstürmen.
Irgendwann klingelte das Telefon, ich hörte sie sprechen und konnte mich endlich bewegen. Ich sammelte die bunten Schnipsel auf dem Boden auf, sie waren alle streichholzschachtelgroß. Und dann fing ich doch an zu heulen.
Die Zeugnisübergabe vor den Sommerferien war keine Überraschung für mich. Ich war natürlich sitzengeblieben, mit fünf Fünfen und einer Sechs auf dem Zeugnis. Die Sechs hatte ich in Mathe, für eine Fünf hatte es da nicht mehr gereicht. Zusammen mit meinem Zeugnis gab mir Herr Lies ein Formular für meine Eltern mit, in dem uns angeboten wurde, mich die vierte Klasse wiederholen zu lassen, um nächstes Jahr auf die fünfte Klasse des Gymnasiums versetzt zu werden. Selbst für die Realschule hätte ich erst wiederholen müssen. Sollten meine Eltern sich nicht ausdrücklich für eine Wiederholung aussprechen, würde es für mich nach den Ferien in der fünften Klasse des Hauptschulzweigs weitergehen, ohne zu wiederholen.
Ich reichte meiner Mutter beim Mittagessen mein Zeugnis und das Formular und duckte mich dabei. Meine Mutter nahm das Zeugnis, sah mich angewidert an und meinte nur: »Was für eine Leistung! Bravo!«
Dann blickte sie auf das Formular und legte es gelangweilt weg.
»Was weiß ich. Soll sich dein Vater doch darum kümmern. Du bist ja seine hübsche Tochter. Von mir aus kannst du auf die Hauptschule, dann bist du mit lauter anderen Idioten zusammen, die genauso blöd sind wie du, und wir müssen nicht mehr so lange Schulgeld zahlen.«
Sie winkte Massume Chanum, unseren Esstisch abzuräumen, ging ins Schlafzimmer, setzte sich vor ihren Schminktisch und begann, ihre rotbraunen Haare aus den Lockenwicklern zu rollen. Ich ging hinterher und legte mich quer auf das große Bett meiner Eltern, stützte mein Kinn in die Hände und sah ihr zu. Ihr beim Schminken und Zurechtmachen zuzusehen, gehörte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Heimlich liebte ich alles, was erwachsene Frauen taten. Schminke, Schuhe mit Absätzen und schöne Kleider, obwohl ich natürlich lieber ein Junge gewesen wäre und alles Mädchenhafte, außer Ballett tanzen, vermied. Ich war in Deutschland drei Jahre in die Ballettschule gegangen und träumte heimlich von einer Karriere als Primaballerina, mit Spitzenschuhen und einem ganzen Leben nur aus rosa Tüll. Wir hatten oft Aufführungen im Theater gehabt, und meine Mutter saß immer stolz im Publikum und sah mir beim Tanzen zu. Ein paar Wochen vor unserer Abreise wurden unsere Füße von unserer Lehrerin auf Papier aufgemalt und dann für alle Spitzenschuhe aus Paris
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