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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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schwach wurden, zog ich eine Riesenshow ab, weinte laut und schrie auf Deutsch, dass ich lieber sterben wollte, als zu meiner Tante zu gehen, und im Gegensatz zu ihr meinte ich das ernst. Sie war dann natürlich beleidigt und ließ von mir ab, aber nicht, ohne immer wieder davon anzufangen, dass sie eigentlich gegeißelt gehöre, weil sie ihre Nichte und so weiter. Das war die Zeit, in der meine Mutter anfing, grundsätzlich jeden anzulügen, der etwas über mich oder unseren Lebensstil wissen wollte. Langsam konnte ich verstehen, warum jeder jeden die ganze Zeit belog. Die Leute vertrugen einfach alle die Wahrheit nicht. Sie wollten belogen werden.
    Mein Vater hatte sich aus Deutschland eine komplette Praxiseinrichtung mit eleganten Möbeln und den neuesten Geräten mitgebracht. Er wollte eine neue Art im Umgang mit Patienten in seiner Heimat etablieren. Menschlicher, intensiver, kultivierter. Er wusste, welcher Respekt ihm mit einem deutschen Facharztdiplom für Kinderkrankheiten entgegenschlagen würde, denn Ärzte galten 1974 im Iran noch als Halbgötter, die zaubern konnten, und welche Zauberkraft hatte erst derjenige, der das Zaubern in Europa erlernt hatte. Aber mein Vater wusste nicht, dass die Iraner unter einem Arzt einen allgemeintauglichen Medizinmann verstanden und nicht unterscheiden konnten oder wollten, dass jeder Mensch, also Mann, Frau und Kind, und jedes Leid einen anderen Fachmann benötigen. So kam es, dass mein Vater bald ein überfülltes Wartezimmer hatte, in dem sich Greise, Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge tummelten. Jeder, der krank war, ging zu dem Doktor. An Termine oder Sprechstunden hielt sich niemand. Man ging zum Arzt und wartete so lange, bis man drankam. Es saßen meistens noch bis spät in die Nacht Menschen im Wartezimmer. Erst wenn alle gegangen waren, konnte mein Vater nach Hause gehen.
    Wenn er dann zu Hause war, war er vor lauter Erschöpfung immer schlecht gelaunt.
    Die Monate vergingen schnell, im Frühjahr wurde es früh warm, ich brauchte im April schon keine Jacke mehr, und jeden Tag war strahlend blauer Himmel, und die Sonne schien auf eine ehrliche, direkte Art, wie ich es aus Deutschland nicht kannte. Ich hatte immer noch nicht wirklich Freunde in der Schule gefunden, meistens saß ich in den Pausen mit ein paar deutschen Mädchen zusammen, die in der Klassenhierarchie keine weitere Bedeutung hatten, aber es war immerhin so, dass es immer jemanden gab, der mit mir in den Pausen Deutsch sprach. Ich hatte nur Kontakt zu den deutschen Kindern, mit den anderen mit ihrem merkwürdigen Getue konnte ich nichts anfangen, und sie mit mir anscheinend auch nicht. Und so kam es, dass ich gegen Ende des Schuljahres zwar immer noch nicht mehr als ein paar Worte Farsi sprach, dafür aber einen blauen Brief mit nach Hause nehmen musste.
    In dem Brief stand, dass meine Leistungen in allen sechs Fächern außer Deutsch und Kunst nicht ausreichend waren und meine Versetzung dadurch mehr als gefährdet war.
    Ich hatte den Brief meiner Mutter nach dem Mittagessen hingelegt und war in mein Zimmer gegangen, hatte mich auf mein Bett gelegt und las einen neuen Comic. Es war Asterix in Spanien .
    Da wurde die Zimmertür laut aufgerissen, und meine Mutter fiel wie eine Dampfwalze mit einer Föhnfrisur in mein Zimmer hinein.
    »Was ist das?«, kreischte die Dampfwalze.
    »Blauer Brief«, antwortete ich leise.
    Sie riss mir das neue, schöne Asterix -Heft aus der Hand und zerriss es einmal in der Mitte.
    Ich sprang entsetzt auf.
    »Blauer Brief? Was ist das? Wieso kriegt ausgerechnet unsere dämliche Tochter einen blauen Brief? Einen blauen Brief bekommen nur die, die auf die Sonderschule gehören!« Sonderschule kreischte sie extralaut.
    Ich setzte mich wieder hin und drückte mich in meine Tim-und-Struppi-Bettwäsche.
    Dann nahm sie die beiden Hefthälften und zerriss jede Hälfte in Viertel, dann diese wiederum in Achtel und diese in Sechzehntel. Dabei schrie sie mit einer ganz entsetzlichen Kreischstimme nonstop auf mich ein. Ich wäre das dümmste, ekelhafteste Geschöpf in ganz Teheran, und ausgerechnet sie musste es großziehen, es wäre schade um das schöne Schulgeld, was man auch noch für einen Nichtsnutz wie mich zahlen würde, ich würde ab heute jeden Tag zehn Stunden lernen, von ihr aus auch jede Nacht durch, ich sollte es nicht wagen sitzenzubleiben …
    »Niemand bleibt in diesem Haus sitzen, das hast du dir so gedacht!«
    Ich konzentrierte mich darauf, nicht zu heulen. Denn

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