Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
Vom Netzwerk:
dem Hotel gab es zwei große Pools, einen nur für Kinder, einen steinigen Strand, ein überraschend klares Meer und jeden Tag Sonne. MeinVater trat gleich am ersten Tag im Meer in einen Seeigel. Nachdem er die feinen Stacheln stundenlang mit Skalpell und Pinzette operativ aus seinem Fuß entfernt hatte, humpelte er am Abend mit uns in die Altstadt von Split und kaufte mir, meiner Mutter und sich selbst Badeschuhe aus Gummi. Meine waren transparent und hatten eine dicke Schnalle. Wenn man mit ihnen schwamm, wurden sie, obwohl sie offen waren, superschwer, und man wurde nach unten gezogen. Es war also ein Kampf gegen das Untergehen statt vorwärts zu schwimmen. Am dritten Tag machte ich allein einen kleinen Streifzug zu den benachbarten Stränden und entdeckte etwas ungeheuer Faszinierendes: einen alten, rostigen Softeisautomaten, der in der Hitze laut brummte. Das Softeis, das sich aus den gezackten Tüllen langsam herauswurstete, war zweifarbig, und zwar in zwei Farbkombinationen: gelb-braun oder gelb-rosa. Der Anblick war so anziehend, dass er alles in mir löschte, was meine Eltern mir je über Softeis eingetrichtert hatten. Softeis war in den siebziger Jahren nicht nur der letzte Schrei, den man in Fußgängerzonen und vor Kaufhäusern angeboten bekam (idealerweise ein Vanilleberg getunkt in einen Eimer mit Schokostreuseln), sondern auch hochgradig verboten, weil diese Automaten ein Tummelplatz für Salmonellen waren. Softeis essen war für mich absolut das Illegalste, was ich überhaupt hätte tun können. Dagegen war meine Angewohnheit, Gummibärchen in unserem Coop-Markt zu klauen, schon fast okay. Jedenfalls machte mich der Anblick dieser zweifarbigen Herrlichkeit so schwach, dass mir der Spruch einfiel, den mein Vater seit Tagen ständig von sich gab: Andere Länder, andere Sitten!
    Ich leistete mir einmal gelb-braun, es schmeckte etwas zu süß für meinen Geschmack, aber ansonsten sahnig und weich. Und nach einer damals für mich noch unentdeckten Geschmacksrichtung: nach verboten!
    Einige Stunden später lag ich mit starkem Brechdurchfall in meinem Hotelbett. Mein Vater hatte seine Arzttasche, die er immer und überallhin mitnahm, aus dem Käfer-Kofferraum geholt. Als ich zum zwanzigsten Mal längere Zeit im Bad verbrachte, kam er einfach hinein und kontrollierte, was es in der Kloschüssel zu kontrollieren gab. Kurz danach steckte eine Infusionsnadel in meinem rechten Arm. Die Infusionsflasche hatte er mit dem grünen Bikini-Oberteil meiner Mutter an der Mini-Bar festgeknotet.
    Ich konnte vom Bett aus meine Eltern auf dem kleinen Balkon stehen und sich streiten sehen, dahinter war das Meer.
    »Du bist schuld!«, fauchte meine Mutter. »Du hast ihr die Pfirsiche ungewaschen gegeben!«
    »Ich habe sie im Meer gewaschen«, verteidigte sich mein Vater.
    »Das Meer …«, höhnte meine Mutter zischend. »Das Meer ist hier doch komplett verdreckt! Im Meer! Im Meer!«
    »Das Meer ist hier sogar sehr sauber! Es ist völlig in Ordnung, sein Obst im Meer zu waschen.« Mein Vater ließ sich von der Zischstimme nicht beirren.
    Das Gezeter war in meinem Zustand nicht auszuhalten, ich hob irgendwann die Hand und sagte mit dünner Stimme: »Hört auf zu streiten, ich habe Softeis gegessen.«
    Instant-Stille auf dem Balkon. Sie kamen beide herein und beugten sich über mich.
    Meine Mutter konnte es nicht glauben: »Was heißt das: Softeis gegessen?«
    »Ja, ich hab mir ein Softeis gekauft«, winselte ich.
    »Wo?«, fragte meine Mutter kalt.
    »Am Strand.«
    Mein Vater hatte die Augen weit aufgerissen und fing jetzt an, wie ein Irrer den Kopf hin und her zu bewegen, als würde das, was er soeben vernommen hatte, den größtmöglichen Wahnsinn bei weitem übertreffen. Sie konnten es beide nicht fassen, schüttelten ihre Köpfe und sahen mich an, als wäre ich ein ekliges Insekt. Dann wandten sie sich beide angewidert von mir ab und setzten sich wieder auf die Terrasse, schnitten die riesige Wassermelone auf, die sie sich, einer spontanen Wassermelonenshoppinglaune folgend, gekauft hatten, und schoben sich kleine, tropfende Stücke davon in den Mund. Ihr Streit war vorbei. Sie lobten sich gegenseitig für die gute Melonenwahl. Und ignorierten mich. Bis heute ist das eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen geblieben: Wie andere Menschen über die verschiedenen Jahrgänge und Hanglagen bei Wein diskutieren können, können meine Eltern stundenlang über die Qualität von Wassermelonen diskutieren. Die jugoslawische Melone von

Weitere Kostenlose Bücher