Hinter dem Mond
1973 war ihren Worten nach aromatisch, arm an Kernen und sehr süß. Aber die Kochsalzlösung in meinem Arm hatte mittlerweile einen Effekt: Ich musste Pipi. In meinem Arm steckte die Nadel. Ich konnte nicht aufstehen. Irgendjemand musste mich zur Toilette bringen. »Ich muss auf Klo!«, rief ich raus auf die Terrasse. Niemand reagierte. Ich geriet in Panik: »Ich muss! Ich muss!«
Endlich kam mein Vater zurück zu mir ins Zimmer. Er hielt eine halbrunde, ausgelöffelte Melonenhälfte in der Hand. Seine Augen leuchteten. »Du kannst jetzt nicht aufstehen.« Und er versuchte, die Melonenhälfte unter meinen Hintern zu schieben.
»Nein! Nein! Ich will auf Klo!«
Da kam meine Mutter auch zu mir, grinste mich an und meinte: »Wer Softeis isst, kann auch in eine Melonenhälfte pinkeln.«
Jedenfalls muss ich immer an diesen missglückten Urlaub denken, wenn mir jemand Wassermelone anbietet oder ich mit ansehen muss, wie jemand welche isst. Ich esse grundsätzlich keine Wassermelone, mir wird immer schlecht von dem ekligen Geruch, und wenn mich jemand allzu lange mit den Vorzügen seiner süßen und kernlosen Melone belästigt, dann erzähle ich diese Geschichte, und danach lässt man mich in Ruhe. Aber beim Anblick jedes Softeisautomaten läuft mir immer noch das Wasser im Mund zusammen, und ich denke kurz: no risk, no fun!
Nun waren also Sommerferien, aber es wurde weder von Südfrankreich noch von Jugoslawien noch von sonst etwas Lustigem gesprochen.
Stattdessen kam meine Mutter mit der Idee eines Sommercamps für mich, damit ich endlich mein Persisch etwas verbessern konnte. Es war eine dieser Sommerschulen für Oberschichtsbälger, deren Eltern keine Lust hatten, sich in den langen Ferien zu kümmern. Die Geliebte meines Großvaters schickte ihre Tochter auch dahin, damit sie ungestört mit meinem Großvater sein konnte. Mein Großvater, also der Vater meiner Mutter, hatte schon länger keinen Bock mehr auf seine Frau, der Stiefmutter meiner Mutter. Von der richtigen Mutter meiner Mutter hatte er sich getrennt, als meine Mutter sechs war. Deshalb war sie in das italienische Internat zu den Nonnen gekommen und erst als Teenager wieder zu ihrem Vater und seiner neuen Frau, also meiner Stiefgroßmutter, und deren zwei neuen neurotischen Töchtern gezogen. Und weil meine Mutter wie bei Cinderella meine Stiefoma und ihre Stiefschwestern hasste, hatte sie mit achtzehn überstürzt meinen Vater geheiratet und mich neun Monate später bekommen, aber zu spät bemerkt, dass das nicht die ideale Lösung war. Jedenfalls hatte meine Stiefoma wegen der wechselnden Geliebten meines Opas irgendwann die Nerven verloren und sich zu ihren in London studierenden Gören abgesetzt. Von dort, aus sicherer Entfernung, konnte sie ihn besser nerven, er wäre schlecht und würde nicht genug Geld schicken, aber ansonsten hatte er so seine Ruhe, mit Ausnahme der Sommerferien, wenn die drei für mehrere Wochen anreisten, ihm die Ohren vollheulten, er müsse mehr zahlen und weniger herumhuren, und irgendwann wieder abrauschten. Ich konnte meinen Großvater gut verstehen, denn seine Geliebte sah im Gegensatz zu meiner Stiefgroßmutter aus wie Brigitte Bardot, mit einer wunderschönen, platinblonden Hochsteckfrisur, sie trug Kleider mit großem Ausschnitt, damit man ihre runden Brüste besser sehen konnte, und redete wenig. Zudem besaß sie den schicksten Friseursalon von Teheran. Meine Mutter ging immer dorthin, ich durfte manchmal mit und setzte mich auf einen der weißen Lederstühle und sah mir fasziniert die vielen, schönen Frauen mit den tollen, langen blonden Haaren und ihren ganzen Allüren an. In dem Salon arbeitete auch ein Schwuler, den nannten sie »Essie«, und sie zogen das E dabei ganz lang: »Eeeeeeessiie«. Die Frauen waren alle angezogen wie die drei Engel für Charlie, die meisten hatten auch die Frisur von Farrah Fawcett. Im Winter kamen manche im Pelz hereingerauscht und warfen ihren Pelzmantel einfach achtlos auf einen der weißen Ledersessel, dann redeten, rauchten und lachten sie alle wild durcheinander, fuchtelten mit den Händen und den rotlackierten Fingernägeln in der Luft und sagten Sachen wie: »Ich hab dir alle neuen Chanel-Lacke aus Paris mitgebracht!« zu der Maniküre-Frau. Oder sie sagten zu Essie: »Mach sie ja ganz glatt! Du weißt, ich bin allergisch auf Locken.«
Und dann hörte ich, wie die eine mit dem Föhn einer anderen zuraunte: »Pass bloß auf, sie ist wirklich sehr empfindlich mit ihren
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