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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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über den Frühstückstisch hinweg an. Er kontrollierte, ob ich auch kaute und schluckte.
    »Mit Geesje«, sagte ich. »Das habe ich doch schon gesagt.«
    Ich saß nur mit dem halben Hinterteil auf dem Stuhl. Mein Bein deutete in Richtung Tür und mein Kinn in Richtung Uhr über der Tür. In Gedanken stand ich schon draußen. Ich sagte: »Ich bin eigentlich schon zu spät.«
    »Gehst du ohne Bossie nach draußen?«, sagte er.
    »Ja«, sagte ich.
    »Habt ihr Streit?«
    »Nein«, sagte ich.
    Es war das soundsovielte Mal, dass er das wissen wollte, und es war seine soundsovielte Frage hintereinander. Es wurde gefährlich. Er sah meinen Augen an, dass ich log, aber er fragte nicht nach der Wahrheit.
    Er sagte, er würde es sehr schade finden, wenn Bossie und ich wegen irgendeines Blödsinns anfangen würden zu streiten, denn es gebe nichts Schlimmeres als Streit wegen irgendeines Blödsinns.
    »Oder doch«, sagte er. »Jungen, die ihren Vater belügen. Das ist auch sehr schlimm.«
    Diese Art Angriff kannte ich. Papa wusste, dass solch ein Angriff funktionierte, wenn er durchhielt.
    Ich schob meinen Teller von mir weg und versuchte, nicht an das drückende Gefühl in meiner Brust zu denken.
    Ich sagte: »Ich muss gehen.«
    »Dann musst du rennen«, sagte er. »Tschüss, mein Junge.«
    »Tschüss, Papa«, sagte ich.
    Ich kaute noch an dem letzten Bissen Brot, als ich die Tür hinter mir zuschlug. Ich lief den Gartenweg entlang. An der Stelle, an der er mich noch sehen konnte, drehte ich mich um.
    Er machte eine kreisende Bewegung mit den Händen. Ich müsste mich beeilen, wollte er damit sagen. War ich denn nicht sowieso schon zu spät?

DAS BEDAUERN
    Bei Geesje stand die Tür weit offen. Die Vorderseite des Hauses badete in der Sonne. Geesjes Mutter schrubbte die Diele. Sie trug noch ihre orangefarbenen Gummihandschuhe von gestern und sah aus wie immer, als würde sie gleich zu einem Fest losziehen.
    Zu ihren Füßen dampfte ein Eimer. Der Dampf roch nach Blumen, die es nicht gab.
    »Guten Morgen«, sagte ich.
    Ich bekam kein guten Morgen zurück.
    Weil ich meine Schuhe nicht nass machen wollte, blieb ich am Gartentor stehen.
    Geesjes Mutter kippte Seifenwasser auf das Treppchen vor der Tür.
    Sie schaute nicht auf, aber ich meinte sie sagen zu hören: »Guten Tag, Oskar.«
    »Ist Geesje zu Hause?«, sagte ich.
    Ich betrachtete das Seifenwasser, das langsam über den Gartenweg zur Straße lief. Ich überlegte mir, was ich erzählen wollte: dass ich, um keine Zeit zu verlieren, früh aufgestanden sei. Ich käme vorbei, um mich mit Geesje zu versöhnen, und nein, es könne nicht warten.
    Ich wollte gerade mit meiner Erklärung beginnen, als Geesjes Mutter sich nach mir umschaute. Ich sah, dass sie eine Sonnenbrille trug.
    Die Muskeln um ihren Mund verzogen sich.
    Es sollte wie ein Lächeln aussehen, aber ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. Sie war noch immer böse auf mich. Sogar böser als gestern.
    Sie hörte auf zu arbeiten und stützte sich locker auf den Besenstiel.
    »Ich glaube nicht, dass du Geesje heute sehen wirst, Oskar.« Ihre Stimme zitterte. Sie hüstelte.
    Ich senkte den Blick zu Boden.
    »Sie hat die ganze Nacht wach gelegen, zwischen mir und Bert. Sie hat sehr viel geweint.«
    »Die ganze Nacht?«, sagte ich und trat einen Schritt näher.
    »Ja«, sagte Geesjes Mutter. Sie nahm die Bürste wieder in beide Hände und wollte weiterschrubben. »Die ganze Nacht. Ich lüge nicht. Ich war dabei.«
    In meinem Kopf spielte sich wieder der Film von gestern ab. Ich überlegte, ob Bossie und ich es im Bus zu bunt getrieben hatten. Waren wir mit unseren Witzen zu weit gegangen?
    »Ach«, sagte Geesjes Mutter, als wäre das alles nicht wichtig. Sie zuckte mit den Schultern.
    Ich verfolgte eine Staubwolke, die unter mir hindurchglitt. Meine Augen fixierten eine Taubenfeder. Dann einen Marienkäfer, der ein Stück mittrieb und schließlich strandete.
    »Können Sie ihr sagen, dass es mir leidtut?«, sagte ich.
    Geesjes Mutter nickte. »Ich würde ihr viel Kraft wünschen.«
    »Viel Kraft«, sagte ich.
    »Ja.« Geesjes Mutter sah fast aus, als würde sie grinsen, aber ich glaubte nicht, dass es ein wirkliches Grinsen war.
    Ich dachte an verschiedene Dinge gleichzeitig. Ich dachte: Saubermachen. Ich dachte: Bossie sollte hier sein. Ich dachte: Warum muss immer ich alles abkriegen?
    Ich sagte: »Wo ist Geesje jetzt?«
    »Was hast du gesagt?«
    Ich räusperte mich und hoffte, es noch einmal herauszubringen, denn meine

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