Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
äußersten Ende ihres Kopfes und der
     niedrigsten Wolke unüberbrückbar, kein Sprung kein Gebet kein saftiger Fluch rettete sie – verschönerte sie. Ein halbes Leben
     vorbei, ein großes Abenteuer vertan, vertan von dem Cousin zweiten Grades, dem die Lumpigkeit ins Gesicht drang: Dem ersten
     Tschechen, der sie gefragt hatte, aus welchem Stoff die Lumpigkeit bestand, daß sie ein Menschengesicht verzerren konnte …
     diesem Tschechen sagte sie: Alle Organe werden zum Wulst gebauscht, vom schlechten Abwind, vom Verzehr vergammelter Schokolade,
     von einer falschen Erinnerung. Ein freies Volk kam in ihren Wünschen vor, und weil sie an Spätsommerabenden es vermißte, angebetet
     zu werden, machte sie sich Luft, sie wurde halb verrückt, ihre Prager Kunden hörten dann auf,über ihre Hymnen an den großen Georgier Stalin zu lachen, das Väterchen war eine Bestie, und kein freier Mitteleuropäer wollte
     den gräßlichen Vater Stalin loben.
    Der Vorhang ist gefallen, und man liebt sich hinter zugezogenen Vorhängen, dachte Gretá, sie war in der Stimmung, ganz verrückte
     Sätze auszusprechen, zu behaupten, daß jener, den die schwachen Männer in ihrem Lokal haßten, die Verdünnung der Moral nie
     zugelassen hätte, doch sie steckte nur die rauchende Zigarette in die Öffnung der leeren Schachtel und ging hinein, ihre Zigarette
     lag auf dem hochgeklappten Kartondeckel auf, der Rauch stieg in gerader Linie von der Glut hoch, und als die Aschesäule abfiel
     und die Zigarette in die Schachtel hineinzufallen drohte, kam sie rechtzeitig zurück, um die Zigarette zwischen ihre langen
     Fingernägel zu klemmen und weiterzurauchen. Die Männer hatten in der Zeit ihrer Abwesenheit, in den wenigen Minuten, schweigend
     den Finger in den Rauch gestoßen, es gefiel ihnen, zu spielen. Hätten sie sich auf der Terrasse nicht diesem harmlosen Spiel
     hingegeben, hätten sie aus Verlegenheit spucken müssen. Das taten sie nicht, sie wünschten nur, Gretás Wut wäre verraucht,
     was konnten sie dafür, daß sie ein Jahr zuviel schlecht gelebt hatte, ein jeder von ihnen hatte Georgien im Weltatlas nachgeschlagen
     und dies Land gefunden, ein jeder von ihnen besaß nur einen Atlas aus der Zeit der Kindheit, sie scheuten sich, zuzugeben,
     daß sie manchmal in den alten Karten und Atlanten blätterten, ihr Herz schlug dann schneller: Ein Kind schnappt nach Luft,
     weil es sich vor der eigenen Freude fürchtet. Gretá aber würde sie vielleicht deshalb laut beschimpfen, sie waren gewarnt
     worden von dem Komponisten, der oft genug in Gegenwart zorniger Frauen ausgeharrt hatte und es also verstand, eine Georgierin
     nicht mit zuviel Freiheit zu verärgern. Eine Scherbe auf dem Kopfsteinpflaster blinkte im Licht der Straßenlampe, Gretá hielt
     es nicht mehr auf ihrem Stuhl aus, sie eilte hin, hob die Scherbe auf, eiltezurück zum Tisch und legte die blaßgrüne Glasscherbe neben den Aschenbecher, sie sagte: Das Ding da erinnert mich an irgendein
     anderes Ding, aber ich komme nicht darauf …
    Wann immer sie von Dingen sprach, wann immer sie sich weigerte, die Gegenstände zu benennen, hatte sie kurz davor einen zersprungenen
     Teller oder eine Tasse mit abgefallenem Henkel entdeckt und sich mit dem Spüler in der Küche gestritten, erst die Entdeckung,
     dann die umständlichen Worte, und am Ende aber nur eine weitere Zigarette, die sie anzündete.
    Die Männer am Tisch erstaunte es nicht, daß der Tellerwäscher jetzt hinausstürmte und seine Schürze vor Gretás Füße warf,
     sie waren auch nicht verblüfft, als er wenig später Kognak trank. Natürlich weigerte er sich, auf einem Stuhl Platz zu nehmen,
     Gretás Verwünschung hatte seine Glieder und seine Knochen steif werden lassen, es kam ihm aber nicht in den Sinn, vor sich
     zuzugeben, daß ein georgischer Fluch seine Wirkung nicht verfehlte, daß er seit neuerdings aus dem Schlaf schreckte und nach
     der Taschenlampe griff und in die dunklen Winkel leuchtete. Der Strahl der Taschenlampe glitt dann nur über ein vertrautes
     Ding hier und ein vertrautes Ding dort, in den Dingen in seinem Besitz war kein Funken Leben. Nun aber stand er, wie es die
     Tüchtigen taten, nun aber verschwendete er keinen Gedanken an die jiependen und zirpenden Gegenstände in seiner Schlafkammer,
     in die er jede Nacht eintrat, nach dem Tellerwaschen und Töpfetrocknen, nach dem Abwischen des Bodens und der Wandkacheln.
     Er gab das Bild des tüchtigen Mannes kurz vor Feierabend, seine

Weitere Kostenlose Bücher