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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Chefin hätte gerne seine kräftigen Oberschenkel gelobt, seine
     großen groben Hände, doch sie war eine Garküchenstalinistin ohne wirkliche Begeisterung für das Väterchen, sie lobte nie –
     sie schwärmte oder verfluchte, sie tätschelte eine Wange oder zerkratzte ein Gesicht. (Viele ihrer Landsleute hielten die
     Bestie für einen Ahnherrn, der im Hain des Russenimperiumserblühte wie eine georgische Blutrose. Den Herrlichen ist es gegeben, Sterne vom Himmel zu pflücken oder eben den Knechten
     ein Brandmal auf die Stirn zu brennen, daß alles Gute und alles Schlechte sichtbar werde. So sprachen viele im ehemaligen
     Russenimperium, und nicht nur Georgier, aber auch Menschen anderer unterworfener Völker jiepten und zirpten, wenn die Rede
     auf den Wahrhaftigen kam: Hatte er nicht jene süße Knabenscham, weil er die nackte Oberlippe mit einem Bart bedeckte? Schlüpfte
     er nicht in einen Kulakenkittel, um sich als ihresgleichen auszuweisen? Das Schicksal, sagten sie, sickert aus den Brustspitzen,
     und wer glaubt, man sauge sich an der Brustspitze fest, um Muttermilch herauszupressen … wer an die Märchen der Biologie und
     Anatomie glaubt, muß das schüchterne Väterchen verkennen.)
     
    Libor stieß den Finger wieder in den Zigarettenrauch und sagte: Der Henker wohnt immer außerhalb der Festung, so war das in
     früheren Zeiten. Wie ist es heute? … Und da Gretá sich keine Antwort entlocken ließ, drehte er sich zu Ferda um und fragte
     ihn, welche widerwärtige Macht die Verliebten auseinandergerissen hätte, die Ameise würde hier bei ihnen sitzen, Aneschka
     aber unterhielte sich im Lokal mit der Dame Vlasta, es sähe doch ganz danach aus, als verwandelte sich das Liebesband, das
     sie beide aneinander fesselte, langsam zu einem herkömmlichen Tau. Tatsächlich dachte in diesem Augenblick Aneschka nicht
     an ihren deutschen Liebhaber auf der Terrasse, sie fühlte gelegentlich seinen Blick auf ihrer linken Gesichtshälfte ruhen,
     und wahrscheinlich ging ihm irgendeine Unanständigkeit durch den Kopf … doch jetzt wollte sie ihn nicht neben sich dulden,
     sie hätte auch die stalinistische Verbitterung an seinem Tisch kaum ertragen. Ihre Haare, ihre Nase, ihre Augen, ihre glänzenden
     Oberlider, ihre goldreifbestückten Ohrläppchen, ihre mit einer nagelneuenPinzette gezupften Augenbrauen gehörten ihr, sie verbat sich die Berührungen. Er hatte vorhin ihre Hand halten wollen und
     war in der Bewegung eingefroren, als sie ihm auf die Hand schlug – sie brannte immer noch.
    Die Zugfahrt von Berlin nach Prag, fünf Stunden – er hatte es den Männern erklärt –, nicht länger und wirklich keine Verspätung,
     bei dem Halt am letzten deutschen Grenzort Bad Schandau trat ihm das Wasser in die Augen, schlimm rührselig seelentümlich,
     ja, er gab es zu, die Hotels mit der Elbansicht, und nach knapp zehn Minuten fuhr der Zug durch tschechisches Gebiet, und
     er hatte nur blind hinausgestarrt und versucht, Reue zu empfinden ob seiner Lüge, die Aneschkas ungerader Stille folgte. Sie
     streifte durch Berlins Vororte, er packte seinen Koffer, hinterließ ihr ein Mitteilungsblatt, ja, er gab es zu, dies war ein
     sehr deutsches Wort, die Lüge, die Lüge, die Lüge, er hatte behauptet, nach Budapest zu reisen. Und die Männer? Libor? Der
     Komponist? Der alte Amateur? Sie sahen, was sie sahen: Die entzweiten Liebenden werden die Lüge womöglich überleben. Gretá
     befahl dem Spüler, sich die Schürze wieder umzubinden und den großen Suppentopf ins Seifenwasser zu tauchen, und als er aber
     weiter reglos die Glasscherbe anschaute, sagte sie: Es wird der Tag kommen, da du an deiner verdammten Sturheit eingehst.
     Es wird der Tag kommen, da ich jede Achtung vor dir verliere …
    Und die in dieser Sommernacht fast kummerlosen Männer, die das meiste nach Augenmaß und nicht nach strenger Maßgabe taten,
     hoben den Blick und entdeckten an der Georgierin die altmodische Hochsteckfrisur, das schulterlose hellbeige Kleid schnürte
     sie zu, ihre Haut so weiß, daß sie leuchtete im Dunkeln, ihre Worte so hart, daß sie sich einfraßen in jeden, der nicht ihren
     Lokalregeln folgte, und vielleicht zerschlug Gretá deshalb die Lüge eines ihr weitgehend unbekannten Verliebten, vielleicht
     brach sie – um mit ihren georgischen Glaubenssätzen zu sprechen – der galoppierendenSau namens Lüge alle Läufe, denn es streifte sie nicht die Liebe eines Anbeters. Sie hatte schon beim ersten Besuch des

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