Hinterland

braunäugigen
     Deutschen bemerkt, daß er nicht Teig nicht Fleisch bestellte, um sich für weitere Jahre den schlanken Leib zu erhalten.
    Auch der Dame Vlasta war der fremde Überdreißigjährige auf der Terrasse nicht ganz geheuer, in den letzten Nächten hatten
     die Kleinchen und hatte das Buschweibchen, hatten die Tautröpfchen ihre Träume verwispert, ihre Augen fielen fast zu, und
     deshalb nahm sie alles nur verschwommen wahr. Und deshalb kam es ihr so vor, als füllte Aneschka ihr gegenüber den leergeblasenen
     Traum der letzten Nacht mit einer Bitte: Mochte sie bitte, bitte, ihr verraten, ob die Gerüchte stimmten? Ob sie dem Gerücht
     glauben sollte, daß sie das Unsichtbare sah. Nichts davon ist wahr, sagte die Dame Vlasta, sie wollte weitersprechen, aber
     das blinkende Licht lenkte sie ab, vom Regen waren die Papiertischtücher durchnäßt worden und wellten sich, die grüne Scherbe,
     an der sich ein kaltes Licht brach, brachte die Dame dazu, sich von ihrem Sitz zu erheben und auf einem Stuhl nah bei der
     Scherbe Platz zu nehmen, sie gesellte sich zu jenen Männern, deren Hosenboden am Gesäß klebte, sie hatten nur flüchtig die
     Gartenstühle auf der Terrasse abgewischt, und nun starrten sie alle auf das Bruchstück einer Mineralwasserflasche, und am
     liebsten hätte Ferda danach gegriffen, das Papieretikett abgekratzt, einen Streifen Tischtuch abgerissen, die Scherbe darin
     eingewickelt und sie in die Hosentasche gesteckt.
    Gretá verdammte sich dafür, daß sie diesen kraftlosen Tschechen einen weiteren Anlaß zum Spielen gegeben hatte. Welcher Wille
     trieb sie an, kämpften sie gegen den Drang an, die Scherbe gegen Asphalt, Beton oder Stein zu schleudern, um vom hellen Klackton
     verzaubert zu werden? Sie verstand in eben diesem Augenblick, was der Untergang eines Imperiums bewirkte: Erst zerfiel das
     Reich, dann zerfielen dieUntertanen; erst schloß man die Mausoleen der einbalsamierten Führer, dann verteilte man das Mumienmittel, auf daß jeder Untertan
     bei lebendigem Leibe verwachste. (Eine schöne absurde Vorstellung. Gretá war eine kluge Frau, die jeder außergewöhnlichen
     Idee eine Scherbe Wahrheit entnahm. Als Ferda ihr eröffnete, daß die Rotarmisten seine drei Großonkel an die Wand gestellt
     und andere Verwandte deportiert hatten, war das Stahlgehäuse ihres Glaubens an das Väterchen nicht etwa durchglüht worden.
     Im Kaukasus wurde damals aufgeräumt, und was sich zum Kehricht machte, wurde wie Kehricht behandelt. Mit der Menschenliebe
     kam man nicht weit, dort im fernen Kaukasus, man liebte … der Führer liebte die Menschen und Tiere und Pflanzen gleichermaßen,
     daher konnte er schlechte Menschen, schlechte Tiere und schlechte Pflanzen dem Kroppzeug zuschlagen – diesen Gedanken behielt
     Gretá aber vorsichtshalber für sich.)
    Libor rieb sich ein weiteres Mal über das kalkweiße Gesicht, und da er Ferda schon nach den deutschen Brotsorten befragt hatte,
     hielt er es angebracht, ihm einfach nur alles Gute für die Reise nach Böhmisch-Kanada zu wünschen, auf dem Gebiet zwischen
     Neutriebitz und Königseck würde es regnen regnen und wieder regnen, Böhmen und Mähren wären ihm doch sicher ein Begriff, dazwischen
     erstreckte sich ein Hügelland, und wo genau der Komponist und sein hübsches Kind ihn hinbrachten, wüßte er nicht genau, vielleicht
     wären die Bewohner wegen der langen Dauer der Gegenreform etwas vergrämt, aber bestimmt freundlich …
     
    Stalin, die Glasscherbe, Kanada, Gegenreform – all das klang in seinem Kopf nach, als er etwas später im Fonds des Autos saß,
     das der Komponist Aneschka erlaubt hatte zu fahren. Antonin war leicht angetrunken, und er zwang sich, nicht aufzulachen,
     er hatte die Musik laut aufgedreht, der Deutsche hinten wollte ganz sicher die Finger in die Ohren steckenglaubte aber, dies aus Höflichkeit unterlassen zu müssen, er hatte ein Lied über hellwache Frauen morgens in der Bäckerei
     komponiert. Und was ist mit den Männern, dachte er, was spinnen sie sich zurecht, was tun sie, wenn sie weiche Knie bekommen,
     weil sie einen Riß im Lampenschirm entdecken, weil ihnen ein Schimmer über die Schnürsenkel wandert, wie schmeckt ihnen das
     erste Glas Wasser des Tages, blecken sie die Zähne nach dem Zähneputzen und werden sie dabei heimlich von einer Frau beobachtet,
     und war die Ameise, durch die seine Tochter hindurchsah, nicht ein bißchen mehr als ein Schuhmacher, das Schuhmachen war ihm,
     wie er