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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Pflastermaler
     sagte mir, er würde nur Datteln ohne Brom und nicht begaste Walnüsse essen, ich probierte eine Dattel und sah hinab auf die
     vielen bunten Kreidestifte, mit denen er eine Hochzeitsgesellschaft auf dem Lande gemalt hatte: Die Braut und der Bräutigam
     im Vordergrund waren pausbäckig, und alle Männer und Frauen und Hunde und Katzen und Vögel auf dem Bild trugen Gänseblümchenkränze
     auf dem Kopf. Zwei Maulwürfe jonglierten auf ihrer pechschwarzen Nasenspitze mit vollen Schnapsgläsern. Ein Kinderbild. Von
     einem Augenblick zum anderen wurde ich bekehrt, nein, es gefiel mir, was ich da sah. Du bist bekehrt, sagte der Maler, und
     ich hielt ihn sofort für einen Drogenbekehrten. Das war es nicht. Das war nicht der Hunger, ich aß in jenen Tagen vielleicht
     zwei Brötchen am Tag, vielleicht auch nur eins, vorm Schlafengehen. Die Pausbäckchen brachten mich auf die Idee: Ich nagte
     am Innenfleisch meiner Wangen, und wenn ich die zerbissenen Stellen mit der Zungenspitze antippte, taten sie weh. Das war
     es nicht. Ich verließ den Pflastermaler, stieg in ein Taxi ein und ließ mich nach Hause fahren, das Taxameter zeigte sechs
     Euro neunzig, ich streckte dem Fahrer einen Fünfzigeuroschein hin, er wollte nicht wechseln, er war von seinem Chef angewiesen
     worden, nicht mehr als siebzig Euro in der Börse zu haben. Er hatte vor zwei Stunden angefangen, ich war sein zweiter Gast.
     Und dann entschied er sich anders und nahm den Geldschein und gab mir das Rückgeld, und immer noch zerbrach ich mir den Kopf
     darüber, was für eine Kraft ich denn spürte … plötzlich war ein Loch in meinem Kopf, und daraus strömte das unsaubere Gas
     aus meinen Lungen.

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    Die Tochter des Komponisten empfing ihn wie einen Fremden, und innerhalb einer Minute wurde er wieder zu ihrem Freund. Er
     war wohl in der Zeit, da sie auf Windpocken die Salbe aufgetragen und Editas Gipsbüsten angestarrt hatte, beim Friseur gewesen.
     Er hatte einen kleineren Kopf. Der paßte zu seiner halbtrüben Stimmung. Die Friseure in Prag, nicht alle, waren früher Schafscherer,
     und jetzt schoren sie Jungs und Männer, denen sie knisternde Kittel anlegten und mit der Effilierschere die Locken ausfransten.
     Ferda hatte noch den Abdruck des Papierkragens am Nacken. Sie stolperte über eine aufgeweichte Zeitung, sie setzten sich in
     eine Konditorei, er bat sie, beide Schuhe auszuziehen, er wollte die Absätze wieder festklopfen und ließ sich nicht von den
     entgeisterten Gästen abhalten. Und während er klopfte, erzählte er:
    Um neun schließt der Meister auf, vormittags kommen fast nur Frauen, und mein Meister repariert Geldbörsen, Schlüsseltaschen,
     Puppenschuhe, Jacken, Hosen, Reitstiefel, Reisekoffer, alte Hebammenkoffer und Pferdegeschirr mit aufgeplatzten Nähten. Er
     polstert Sättel auf, er bezieht Motorradsitzbänke, er erstellt für zwanzig Euro Gutachten über die Schäden an Koffern und
     Taschen, die die Kundinnen an die Fluggesellschaft schicken. Er sagt: Wir haben nicht Klempner gelernt und wagen uns an Schuhe
     ran, deshalb sind wir keine Schuster, wir sind Schuhmacher! In seiner Werkstatt stehen eine Nähmaschine, eine Bohrmaschine,
     um dünne Sohlen aufzubohren; eine Schuhpresse – die Sohlen werden mit Klebstoff eingestrichen, über die Eisenleiste gestülpt
     und dann gepreßt. Und dann zum Trocknen weggestellt. Zwei Schleifmaschinen hat der Meister – die Schritte gehen so: Nägel
     einschlagen in den Absatz, mit dem Nagelversenker nacharbeiten, schleifen. Wir haben Schuhweitgeräte für Halbschuhe, aber
     wenn eine Frau mit einem Wadenumfang von achtundvierzig Zentimetern reinkommt, müssen wir schauen, was wir tun können.Der Meister hat lange Leichtgummischalen und das Weitgerät in die Stiefel gesteckt und so lange an der kleinen Handkurbel
     am Gerät gedreht, bis es ihm nach Augenmaß gereicht hat, dann durfte ich Lederdehner sprühen, und die Stiefel haben wir einen
     vollen Tag stehenlassen. Du hättest das Gesicht der Frau sehen sollen, als sie in die Stiefel schlüpfen konnte, ihre Waden
     paßten hinein, und sie war glücklich. Wenn nichts zu machen ist, sagt mein Meister: Sieht schlecht aus. Ist ein ganz anderes
     System. Ich halt mich nicht damit auf … Was glaubst du, was soll ich ihm aus Prag mitbringen?
    Schokolade und Postkarten, sagte sie und zog sich die Schuhe an. Sie hatte ihrer Mutter, von der sie im Moment nur wußte,
     daß sie Kieselerdekapseln für Haut und Haar

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