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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Schlaf hoch, am zwölften April eines glücklosen Jahres, doch nicht wegen Lappalien,
     sondern wegen der Schwärze eines Traums, dessen Einzelheiten er sich nicht merken konnte, er schlüpfte schnell in seine jahreszeitstimmigen
     dunklen Kleider und machte sich auf zu einem langen Spaziergang, und bald stand er auf der Galatabrücke. Die Angler umschlossen
     mit einer Hand den Korkgriff ihrer unberingten Stippruten, die andere Hand war immer in Bewegung, in den Plastikeimern, bis
     zum Rand voll mit Meereswasser, zuckten kleine Fische mit ihren Flossen. Die Männer mit den Angelruten unterhielten sich nicht
     miteinander, nur einer brach aus der Reihe heraus, übergab die Rute seinem Sohn und schloß sich Timur an. Erst gingen sie
     schweigend nebeneinanderher, dem Mann waren die Zigarettenausgegangen, er kaufte am Kiosk eine Packung Ungefilterte, und dann rauchte er eine Zigarette ganz, rauchte die zweite Zigarette
     bis zur Hälfte und warf sie weg. Sie verloren sich in den Gassen des Viertels Eminönü, sie traten in ein Teehaus ein, in dem
     die Alten schon eingekehrt waren, sie hielten, wie es sich für Einheimische gehörte, ihr Tulpenglas mit Daumen und Zeigefinger
     im Zangengriff. Worum genau bin ich gebeten worden? dachte der Schwiegersohn, hätte ich nicht eine gewisse Unregelmäßigkeit
     bemerkt, wäre ich diesem Treffen ferngeblieben. Den Alten fehlt es ganz sicher nicht an Verstand, und ich bin ein verdammter
     Säufer … Kaum hatten sie Platz genommen, setzte sich Herr Osman die Lesebrille auf und begann von einem Blatt abzulesen, von
     dem die Neuhinzugekommenen zu ihrem Erschrecken angenommen hatten, es handelte sich um ein Bekennerschreiben, denn es waren
     die Tage des stillen Terrors und der vorsichtigen Terroristen. Man konnte nie wissen, was auf der Hausschwelle lag, doch Herr
     Osman bezog sich eindeutig auf die belebten fliegenden bunten Klumpen, die man auf der Steinstufe fand. Die Empfindsamen,
     sprach er, sind auf elende Weise umgekommen, sie schlugen auf dem harten Boden auf und waren auf der Stelle tot. Was treibt
     Junggesellen und Schüler im Alter von zwischen sechzehn und achtundzwanzig dazu, keine Sekunde länger leben zu wollen? Die
     verschmähte Liebe? Schulden? Ein schlechtes Zeugnis? Schwarze Sehnsucht? … Er legte einen Finger genau auf den Punkt nach
     der Zeile, die er soeben vorgelesen hatte, und polterte über die Sitte, einer grundlosen Seelenvertrübung eine Farbe zuzuordnen,
     die Fahrer von Sammeltaxis würden den Ellenbogen auf den Fensterholm legen und bei Höchstgeschwindigkeit Gefühle bekommen,
     Gefühle von Verlust, das taten sie doch nur, weil ihre Art von Rebellion die Verletzung von Verkehrsregeln bedeutete, aber
     zurück zu den Empfindsamen, alles Männer und keine einzige Frau darunter, waren sie, die sie hier saßen, die Jungenund die Alten, nicht minder gefährdet, und doch blieben sie am Leben …
    Es wurde Zeit, ihm ins Wort zu fallen, und das tat der Brückenangler auch, er verwies auf die knappe Zeit und seine Sorgfaltspflicht
     als Vater eines Sohnes, dem er erst beibringen mußte, daß ein Fisch nicht aus dem Wasser sprang, weil man die Rute hin- und
     herschwenkte. Er mochte, so wurde ihm aufgetragen, jenen Mann finden, der den ihnen allen bekannten Brief bekam und die Flucht
     antrat, Herr Altan hatte eigene Erkundungen angestellt und die neue Adresse des Mannes erfahren. Der Angler sollte mit ihm
     über das Phänomen sprechen. (Die Türken der Neuzeit sind völlig zu Unrecht in den Ruf gekommen, jedem Streitschlichter den
     Garaus zu machen. Sie zanken sich gerne, üble Nachrede und Verleumdung gelten als legitime Mittel, um eine Person, der man
     mindestens den Hexenschuß an den Rücken wünscht, zu Fall zu bringen. Spätestens dann, wenn alle Wege verstellt sind, wird
     einem harmlosen Zivilisten das Amt des Friedensrichters angetragen: Man ködert ihn mit großen Worten und der Aussicht auf
     eine nichtdotierte Auszeichnung. Aber auch in Fällen wie der Auffindung eines zu Tode verschreckten Mannes beauftragt man
     einen nicht sehr klugen nicht sehr dummen, aber kräftigen Mann. Er soll, so man ihm die Suche erschwert, schon mal wirksam
     mit der Faust drohen können. Der Schwiegersohn war nichts weiter als ein Beisitzer, der Angler, sein langjähriger Freund,
     hatte eher das Zeug zu einem Unterhändler.) Er verabschiedete sich, und sie starrten sein volles Teeglas an – bevor jemand
     dies Bild zu deuten anfing, war es besser, ein

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