Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
Altan die Hummeln in Flammen erwähnt, und er war überrascht gewesen, daß
     sie ihn nicht der bolschewistischen Phantasterei bezichtigt hatten. Einen Bolschewisten hieß man einen Narren, einen Tölpel,
     einen Spätaufsteher, einen byzantinischen Rückeroberer – aber nein, die vier Händler rückten näher, senkten die Stimme und
     sprachen: über die Hummeln, deren kaltes Feuer Löcher in die Nacht und in den Wind brannte, die nur ein wenig Leben beseelte,
     als wären sie Finger eines halbtoten Geistes, der nie in voller Gestalt erschien; die Hummeln, bei deren Anblick ihnen, erwachsenen
     ernüchterten Männern, der Schreck in die Glieder fuhr. Herr Altan eilte der Ruf eines Wüstlings voraus, der seine Unterhosen
     ungebügelt trug, er war mit seinen knapp sechzig Jahren einer der jüngeren Krämer, und was ihn heute beschämte, konnte er
     schon morgen als heiße Luft abtun – nur nicht seine Werteordnungsliebe, nur nicht diese furchtbaren entflammten Seelchen.
     Die Hummeln waren in seinen Augen keine schwarzen Punkte im Hitzeflirren des Asphalts, seine launischen Freunde gaben ihm
     darin recht. Vom höchsten Stock des Turmes stürzten die empfindsamen Männer in dieTiefe, sie hatten es noch nie mit eigenen Augen gesehen, doch es gab Augenzeugen, in andere Viertel Versprengte, über die
     zerschundenen Körper im Turmschatten Vergrämte, sie waren weggezogen, und da sie keinen Nachsendeantrag stellten, bekamen
     sie Briefe von Bekannten, die nur ihre alte Adresse kannten. Herr Erkan bewahrte die Briefe in seinem Geschäft für Lampenschirme,
     Lampenfassungen und elektrische Neuheiten auf, nur ein einziges Mal versuchte ihn der Teufel und flüsterte ihm ein, wenigstens
     einen Brief zu öffnen. Es war nicht der Teufel, aber sein Schwiegersohn, mit dem er sich eigentlich gut verstand, und nur
     deshalb hatte er diesen einen Brief geöffnet, ihn vollständig gelesen und die ganze Nacht mit sich gerungen. Der Verfasser
     des Briefes war wohl Hals über Kopf aus dem Galataviertel nach Üsküdar im asiatischen Teil geflohen, und er beschrieb dem
     Empfänger die Qualen, die er erlitten hatte – ein Gesumme von draußen weckte ihn, und er stellte sich ans Fenster und sah
     die fliegenden glühenden Kohlenstücke, summende Kohlenstücke, die der Schwerkraft trotzten, solche Bilder schauten doch nur
     Heilige oder Opiumsüchtige, und er rührte kein Rauschgift und keinen Alkohol an, wie in Gottes Namen konnte das passieren,
     und was genau war also passiert. Hilf mir, dieses Bild aus meinem Kopf zu bannen, hatte der Mann geschrieben, und mach, daß
     du da fortkommst, hier in diesem Haus wird eine Wohnung im vierten Stock frei, sei ohne Sorge, es gibt einen Aufzug und wohlerzogene
     junge Frauen, die einem alten Mann die Einkaufstüte bis vor die Wohnungstür tragen … Herr Erkan hätte diesen Brief, verdammt
     noch mal, nicht öffnen dürfen, für einige Wochen stand sein Seelenheil auf dem Spiel, doch er hatte sich gefangen, er war
     im Anzug zum Wahllokal gegangen und hatte seine Stimme einer rechten Volkspartei gegeben, die für ihre Abgeordneten im tadellosen
     Anzug bekannt war. In dem besagten Gespräch also war der Schleier zerrissen, der Schleier, der sich nie bauschte, wenn der
     Wind hineinfuhr,der Schleier zwischen den Herren Händlern und dem, was sie unterschiedlich benannten: die Hummeln, die Kohlestücke, die leuchtenden
     Fetzen Flammenkleid, die brennenden Augen der empfindsamen jungen Männer. Und tatsächlich einigten sie sich auf diese letzte
     Bezeichnung des Phänomens, um dann aber nur noch über ›das Phänomen‹ zu sprechen. Das Phänomen entstand, weil die Seelen zurückkamen
     an den Platz des Turmschattens, ihr Schmerz konnte nicht überboten werden, man konnte sie nicht besänftigen mit Gebeten oder
     kleinen Opfergaben, die man in Geschenkpapier einwickelte und mit einer roten Kordelschleife versah. Das taten die Herren
     Altan und Erkan, ohne Absprache mit den anderen beiden Händlern, sie opferten einen Handschmeichler und eine antike Zitruspresse,
     sie legten sie in einer Morgenstunde auf die vierte Treppenstufe am Turmaufgang, sie bekamen große Angst wegen der heidnischen
     Ungehörigkeit, die sie sich erlaubten, sie eilten nach Hause und blieben wach. Die Herren Osman und Göktürk wurden wenig später
     informiert, Herr Göktürk sagte: Das war mutig, Herr Osman hob zu keiner Widerrede an. Es verging nicht, das Phänomen.
    Timur, der Schwiegersohn, schreckte aus dem

Weitere Kostenlose Bücher