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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Gewicht in den Griff um seinen Arm, und sogar die Polizisten,
     die in einer Dreierreihe herabgingen, machten ihnen Platz. An der Talstation der Standseilbahn, am Tünel-Platz, machten sie
     halt und verschnauften – sie waren einem Umweg gefolgt, und nun kehrten sie in einer kleinen Schleife zurück zum Haus mit
     dem abblätternden Fassadenanstrich, am Geländer der Terrassenwohnung im fünften Stock stand ein Mann in einem schwarzen Kapuzenmantel.
     Als der Brückenangler ihm aus einem inneren Anschub heraus zuwinkte, verzog dieser das Gesicht. War er hingerissen von der
     Aussicht, und störten ihn nur die Spielzeugmenschen? Da sahen sie, daß Kürbiskernschalen herabfielen, im Fall kurz aufgehalten
     vom Wind, und sie trieben ab und fielen auf das Pflaster, und als Rüschtü Bej sagte: Sie sehen aus wie die abgestreifte Kopfhaut
     von sehr kleinen Fingerpuppen, als er diese Worte sprach, mußte der Angler noch einmal hochblicken, der Mann am Geländer starrte
     ihn wütend an, trat zurück und entzog sich seinem Blickfeld. Die Freunde des Alten entdeckte er nach wenigen Schritten zu
     Füßen des Turmes, sie hatten sich auf zwei Parkbänke verteilt, der Vater seines besten Freundes stand auf, zog an den Fingerstulpen
     seiner Handschuhe und eilte herbei. Woher hatten sie alle gewußt, daß es ihm nicht schwerfallen würde, den Entlaufenen so
     schnell zu finden? Sie hatten es gewußt, sie hatten am richtigen Platz auf sie gewartet, sie hatten nicht gezweifelt.Und es gab für ihn nichts mehr zu tun, also dachte er ein letztes Mal, ein vorletztes Mal, an die junge Empfangsdame, die
     sich bestimmt viel davon versprach, fremde Männer willkommen zu heißen im teuren Betonbunker mit den schönen Aussichten, und
     während er versuchte, die Einzelheiten ihres Gesichts zu einem Ganzen zusammenzufügen, ging er, leicht gedrosselt von einer
     kleinen Hoffnung, die Gasse entlang, in der sich die Frauenbeschauer drängelten.

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    Die wenigen Gnaden, die uns zuteil werden: Stand es ihnen denn nicht gut an, daß sie ausschwärmten? Sie warteten vielleicht
     den Gebetsausruf zu Mittag ab, sie lüpften den Tüllvorhang, sie schauten aus kleinen Fenstern hinaus und entdeckten andere
     junge Männer, denen sie sich anschlossen. Die Aufgehübschten kamen von den Hügeln herunter, wie tote Schlangen lagen die dicken
     nassen Haarsträhnen auf dem Kopf, und sie hatten sich zwei Tage nicht rasiert, weil es der Mode entsprach, nur die Jochbögen
     und den Hals von den Stoppeln freizuschaben. Ein weißes Hemd, eine Jeanshose, Imitatturnschuhe. Sie trotzten der Kälte und
     trugen keine Schals und keinen Mantel, und sie stiegen in Busse und Züge ein, oder aber sie brachen in der Frühe auf, um nach
     einem mehrstündigen Gewaltmarsch an der Fähranlegestelle anzukommen, und sie stiegen in die Fähre ein, und wann immer der
     Teeknecht ihnen einen Tee anbot, lehnten sie ab: Sie kannten ihn, er war unberechenbar, die Halbirren ohne städtische Manieren
     verwirrten sie – sie saßen, ohne ein Wort miteinander zu sprechen, im Passagiersaal, jedes laut ausgesprochene Wort hätte
     sie als Söhne von Bauern, als Hügelwilde, verraten. Der Halbirre aber ließ sich nicht täuschen, er wollte mit ihnen unbedingt
     über die große Politik reden, denn sie, die jungen ungalanten Anatolier, wären doch die strahlende Zukunft desLandes, man könnte mit dem Löffel die Zuckerwürfel am Boden des Tulpenglases zerstoßen und kluge Gedanken äußern. Kluge Gedanken.
     Einer von ihnen verstieß heute gegen das Schweigegebot und sagte: Wir kümmern uns wenig um den politischen Anstand. Da lachten
     sie alle, der Teeknecht und die Frau, die eine Brille mit Goldfassung trug, und die beiden Männer, die ihre Krawatte auf Brusthöhe
     zwischen die Knöpfe ihres Hemdes gesteckt hatten, sie lachten die Aufgehübschten nicht aus, sie lachten sie an. Die Halbgebildeten
     von den Hügeln kombinieren die Worte auf ihre Art, die Gelehrten des staatlichen Sprachinstituts erfinden neue reine türkische
     Worte, und es geschieht, daß ein Südostanatolier – ein Türke, ein Kurde, ein Araber – ein neues reines türkisches Wort aufschnappt,
     und da er es ausspricht, gibt er dem Wort einen Sinn, das es bis dahin nicht hatte. Die Städter hielten die Hügelwilden also
     für tatsächlich klug, auch wenn sie das Gelächter und die folgende Heiterkeit zu verwirren schien, und daß der Teeknecht ihnen
     zurief, die Pestflöhe in den Sitzen würden sie

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