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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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war kurz ins Zwielicht hinübergewechselt und heimgekehrt, und die
     Besucher des Theaters am Geländer fingen an, uns in ihre Geschichten einzubinden. Ich bestellte Blätterteig, ich hatte Hunger.
     

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    lili marleen
    Wie die alten weisen Männer vom Turmschatten alle Hoffnungen auf den Schuhmachergesellen setzen und Ferda in Istanbul die
     empfindsame Hündin Belinda zuläuft; wie ihm der sittenstrenge Onkel vor dem Sippentreffen das Buch »Anweisungen für die tulpenpflückende
     Dame« übergibt
     
    Die Neue Feuerwache der empfindsamen jungen Männer stand auf dem kleinen Hügel im Istanbuler Stadtteil Galata, der einstige
     Wehrturm lud schon allein wegen seines Kegeldachs dazu ein, den Kopf in den Nacken zu legen und hochzuschauen: Wer wußte schon,
     wer auf der Aussichtsplattform stand, wer mochte es ausschließen, daß von oben spitze und stumpfe Steine herabfielen. Die
     Empfindsamen – sie vergaßen sich und fällten eine Entscheidung, sie fielen vom Himmel wie überreife Paradiesfrüchte, und auch
     der in Hast Eilende, der mit geringem Stundenlohn Bezahlte, die nach der Liebesnacht zum Frühstück langsam Treibende, sie
     alle konnten nicht anders, als mitten im Schritt auszubrechen, sie gingen in kleinem Bogen um den Turm herum.
    Unter dem Kerker im Erdgeschoß hatte man vor Jahren Skelette in der sogenannten Fechtstellung gefunden, die Beugemuskeln waren
     stärker als die Streckmuskeln, und Menschen, die im Brand umkamen, zogen ihre Arme und Beine an den Leib heran und beugten
     sie. Dann erzählten sich die Leute vom Viertel, daß dies ein verdammter Fleck Erde war, auf dem der Turm stand, man konnte
     sich noch so modernkleiden, man konnte noch so heftig den Aberglauben verteufeln, man rief es herbei, das Unheil, wenn man in der Nähe wohnte
     und beim Anblick des Turms Gott nicht anrief.
    Der Platz, der nur an einer Seite den Turmsockel umgab, war mit Kopfstein bepflastert, hier saßen auf Parkbänken eigenartige
     Männer, die Hände auch im Sommer in den Taschen versteckt, vielleicht wollten sie sie nicht vorzeigen, um sich nicht zu verraten:
     Sie ließen sich die Fingernägel wachsen, um in den Morgenstunden, da der Menschenstrom abriß, ihre Namen einzukratzen in den
     brüchigen Mörtel.
    Herr Altan vom Souvenirladen im Turmschatten ließ keinen Mann und keine Frau vor seinem Laden rauchen, er bat sie herein,
     steckte eine Selbstgedrehte in die Zigarettenspitze aus Meerschaum und erzählte paffend von den flammenden Hummeln, die immer
     dann, wenn keiner hinsah, den Turm umflogen, und jeden Morgen im Monat Juli kehrte er die toten Hummeln von den Steinstufen,
     er kniete sich jedesmal hin und betrachtete die verschwärzten Flügelstummel und die wie mit Pech überzogenen kleinen Leiber.
     Jahrelang hatte er diese Entdeckung für sich behalten, wer ein Geheimnis teilt, hat einen Mitwisser, dachte er, in diesen
     Zeiten will ich nicht als Sonderling gelten, die Sonderlinge machen mir noch das Geschäft kaputt, weil sie auf dem Platz herumlungern
     und die Touristen mit lauten Ausrufen erschrecken. Also keine Enthüllung, kein Sterbenswörtchen. Warum aber entschied er sich,
     fast über Nacht, daß er die Diskretion aufgeben mußte, wollte er noch in den Spiegel schauen, ohne zu zucken?
    Er war, wie so viele andere auch, kein gebürtiger Istanbuler, manchmal mußte er sich deshalb von echten Istanbulern sagen
     lassen, daß er zu der Schar der Besatzer gehörte, die herzogen, um bei jedem zehnten Schritt auf den Boden zu spucken. Er
     schleuderte keinen Auswurf auf das Pflaster, er hatte nur den trockenen Raucherhusten, und er kam nie – niemals! – auf die
     Idee, die Gassen des Viertels auszuschreitenwie ein linker Student. (Natürlich wählte Herr Altan rechts, die Ladenbesitzer und Händler unterhielten sich tagtäglich über
     Politik, dabei lagen die Zeitungen aufgefaltet auf dem Schoß, und sie bezogen sich immer auf die aktuellen Thesen der Kolumnenschreiber.
     Mal ging es um die Räumung illegal besiedelter Hügel, mal um die streunenden wilden Hunde, die ihre Schnauzen in die aufgebissenen
     Mülltüten vor den Bürgerhäusern steckten. Sie alle wählten rechts, weil sie das laute Poltern, das laute Sprechen und das
     laute Angeben verabscheuten. Den Konservativen, darin waren sie sich einig, war die Luft ausgegangen, sie trugen goldene Krawattennadeln
     und ließen sich von Neureichen zu Trauzeugen degradieren.)
    In einem der Gespräche mit drei Händlern hatte Herr

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