Hiobs Spiel 1 - Frauenmörder (German Edition)
Kessler mit mir gemacht hat und was er gesagt hat, oder musst du jetzt zu dringend zum nächsten Termin?«
»Die Erinnerungen nehmen? Nein, ich glaube, das wäre auch nicht gut. Auch wenn es böse Erinnerungen sind ... sie sind doch ein Teil deines Lebens. Du musst davon lernen und daran wachsen.«
Wie blöd das klang. In was für eine altbackene Pädagogenrolle ihn dieses Mädchen drängte. War er nicht wild, war er nicht Magier, Spieler? Warum nahm er sie nicht mit sich fort, leerte ihren Geist von allem Grauen und gab ihr die Kraft, niemals mehr im Leben Ähnliches erdulden zu müssen? Warum half er ihr nicht wirklich? Er hatte doch die Macht dazu.
Die Antwort tauchte in seinem Inneren auf wie ein weißer Hai. Weil er nicht die Macht dazu hatte. Weil er das vierzehnjährige Mädchen eh nur benutzte, um mit ihrem Hoffnung in ihn setzenden Gesichtsausdruck die schreiende Fratze Sonja Zimmermanns zu übertünchen. Weil er kaum in der Lage war, sich selbst zu helfen. Vielleicht war es einfacher, der Menschheit als Ganzem zu helfen als einem einzelnen Menschen. Vielleicht war dies der Grund seines Spiels: die Vermeidung von Schwierigkeiten. Welch absurder Wahnwitz!
Er strauchelte fast, lächelte verwirrt, fingerte hinten in seinem Gürtel nach dem dort steckenden Requisit, das er noch vorbereitet hatte, als letztes Winken einer helfenden Hand.
»Hier ... das wollte ich dir noch geben, als Abschiedsgeschenk sozusagen. Das ist die neue CD von Joni Mitchell. Ich weiß, dass du auf intelligente, melodische Musik stehst, die von Frauen gemacht wird. Joni Mitchell ist schon ziemlich lange dabei bei dem ganzen Zirkus und hat ’ne Menge Weisheit angehäuft. Sind auch sehr schöne Texte dabei. Sogar ein Lied über Hiob.«
»Über Hiob? Warum soll mich ein Lied über Hiob interessieren? Hältst du mich für so eine Art Pechvogel?«
»Ähh, nein, nein. Das ist eher auf mich gemünzt. Hiob ... hat manchmal Ähnlichkeit mit mir. Wenn ich nicht so richtig weiterweiß. Wenn ich die richtigen Worte nicht finde. Hier, nimm. Als Geschenk. Für dich.«
»Mein Vater hat gesagt, ich soll keine Geschenke von fremden Männern annehmen.«
»Ach, komm, das ... das bezieht sich doch nur auf Männer, die was von dir wollen. Ich habe doch nie irgendwelche Bedingungen gestellt ...«
»Ja? Ist das so?«, begehrte sie auf. »Was weiß ich denn schon davon? Ich weiß überhaupt nichts über dich. Nicht wer du bist, woher du kommst, was du alles kannst, und erst recht nicht, warum du etwas für mich tust. Vielleicht ist das ja auch alles nur ein Trick, um mich rumzukriegen. Ein groß angelegtes Spiel mit einem kleinen, dummen Mädchen, das sich nicht wehren kann, weil es schon verwundet worden ist. Als Nächstes gehst du zu deinen Stammtischfreunden und prahlst mit deiner neuesten Eroberung.«
»Eroberung? Aber ich habe doch nicht im Mindesten ...«
»Vielleicht war das alles ja mit Kessler abgesprochen. Vielleicht steckt ihr alle unter einer Decke. Siehst du? Ich beherzige schon deinen Rat. Ich pflege meine Erinnerungen, und ich lerne daraus und wachse daran.«
Das Mädchen wandte sich ab und ging mit schnellen Schritten davon. Hiob stand da wie ein Idiot, die Arme in unverstehend-unschuldiger Geste gehoben und unverständliche Silben murmelnd. Als ein paar Halbwüchsige in der Nähe anfingen, sich über ihn lustig zu machen, überlegte er, ob er einem von ihnen die CD ins Gesicht schleudern sollte. Sie würde mit einigem Glück sogar stecken bleiben, denn CD-Hüllen fliegen gut und gerade und sind ziemlich schwer und hart. Verblödete Kurzwichser. Er steckte sich die CD wieder hinten in den Gürtel und verließ mit grimmigem Gesicht das Schulgelände.
Widder erwartete ihn, so wie er Nicole erwartet hatte, nur dass sie auf der Motorhaube eines parkenden BMW saß und nicht auf einem Fahrradständer. Sie sah heute aus wie die junge Eleonora Duse, Melancholie im Blick.
Hiob ging auf den BMW zu, trat drei Dellen in die Tür und schimpfte dabei »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Dann packte er die Duse am Arm und zog sie mit sich fort die Straße hinunter, denn er wollte hier in diesem pseudoidyllischen Suburbia nicht auch noch einen erbosten Wagenhalter umbringen müssen.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte Widder, stolpernd, verwirrt, die perfekte Darstellung romantischer Hilflosigkeit. »Warum bist du so aufgebracht?«
»Weil es nicht geklappt hat. Weil es nicht klappen kann. Ich bin nicht in der Lage, einem Mädchen zu helfen oder
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