Hirngespenster (German Edition)
Blut.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich fahr dich.«
Matthias saß neben ihr, in sich zusammengesunken hing er im Beifahrersitz, hielt sich den Bauch. Er wimmerte wie ein Baby. Sein Kopf wackelte bei jeder Bremsung und jeder Kurve hin und her wie bei einer Puppe. Er hatte nicht gewollt, dass sie ihn fuhr, hatte auf einem Notarzt bestanden, doch einmal, ein einziges Mal hatte sie die Oberhand behalten. »Ich fahre dich, basta«, hatte sie gesagt und die zitternden Hände hinter dem Rücken versteckt. Wenn ein Notarzt ihn abholte, verlor sie die Kontrolle. Am Ende hatten die ein Gegenmittel dabei, wer wusste denn, ob die Artikel im Internet alle auf dem neuesten Stand waren und nicht mittlerweile die Forschung ihr einen Strich durch die Rechnung machte.
»Die Kinder?«, hatte er gewispert.
Ihre Antwort: »Die Kinder schlafen, Matthias.« Wenn es schnell ging, dann war sie vor dem Frühstück längst wieder zu Hause, und Luna kam pünktlich zur Schule.
Als sie an der Ampel standen, wendete Matthias ihr sein Gesicht zu, das nunmehr einer Fratze glich. Der rote Schein der Ampel verlieh seinem Blick etwas Teuflisches, als er flüsterte: »Du hast mir was in den Salat getan. Stimmt's Anna?«
Ihre Finger hielten das Lenkrad umklammert, ihr Blick war in seinem gefangen. Plötzlich griffen seine Finger nach ihrem Handgelenk, schüttelten es kraftlos. Er weinte. »Anna, sag, was es war! Du musst es den Ärzten sagen, die müssen ein Gegengift spritzen, ich gehe vor die Hunde!« Wieder hielt er sich den Bauch und das Gesicht, wimmerte verzweifelt. Wie ein greinendes Baby rief er: »Fahr schnell, Anna!« Und als sie nicht anfuhr, sondern die grüne Ampel anstarrte, da schrie er mit letzter Kraft: »Fahr schnell!!!!!!!!«
Und Anna fuhr schnell.
Die Ecke des Pfeilers zur Krankenhauseinfahrt bohrte sich mit der Wucht von siebzig Kilometern pro Stunde in den rechten Kotflügel des Wagens, schob die Karosserie des BMW in seinen Körper und blies ihm den letzten Funken Leben aus dem Leib.
Annas Kopf sank aufs Lenkrad. Kurz dachte sie an die Reise in dem blauen Umschlag, die sie allein antreten würde. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Silvie
Meine Eltern fanden ein Notizbuch unter Annas Sachen, als sie sich endlich bereit erklärt hatte, in die Klinik zu gehen. Sie waren gerade dabei, das Nötigste für die Mädchen zusammenzupacken. In dem Buch stand nichts anderes als ein Satz, hundertfach wiederholt: Tod durch Ersticken. Akribisch eingetragen. Dieser Satz hat meinen Eltern und mir großes Kopfzerbrechen bereitet. Wie hatte sie davon wissen können? Ja, wirklich. Wie?
Ich rappelte mich vom Fuße der Straßenlaterne auf und wischte mir die Tränen von den Wangen. Jens begleitete mich zu meinem Wagen und kehrte zurück ins Büro, er hatte noch zu arbeiten.
Bevor ich den Wagen startete, um die Jungs von der Krippe abzuholen, saß ich minutenlang im Auto und starrte vor mich hin. Ich konnte nicht glauben, was ich gehört hatte. Vor allem aber konnte ich mit niemandem darüber sprechen. Am wenigsten mit Johannes, der mich am Abend prompt fragte, was los sei. Ich erzählte ihm von meinem Gespräch mit Anna: Dass es ihr schlecht gehe, und dass der Entzug ihr entsetzlich zu schaffen mache. Ich hatte den Eindruck, als wolle er mich in den Arm nehmen und trösten, aber die Barriere zwischen uns war zu groß – seinen Wunsch nach einer Paartherapie hatte ich abgelehnt. Ich glaube, er hatte genug von mir.
Zwei Tage brauchte ich, um Jens' Offenbarung zu verdauen. Ich erkundigte mich bei Annas Therapeut, wie es im Allgemeinen zur Entstehung von Zwangsneurosen komme. Er erklärte mir, dass sie unter anderem entstehen, um die Ängste in Schach zu halten. Die Todesängste, die oft genug völlig unreal sind – nicht wie in Annas Fall, die als Jugendliche Leukämie hatte. Sie entwickelte ihre Ticks, um gegen die Todesangst anzukommen, die ihr tägliches Leben bestimmte. Sie hatte keine schlimmen Ticks, wir bemerkten jahrelang gar nichts davon, betrachteten ihre Marotten lediglich als solche. Als junge Frau entwickelte sie den Tick, sich nichts gönnen zu können, nicht einmal den geringsten Spaß, der nicht viel kostete, das war ihr Mantra. Sparen, sparen. Jeden Pfennig legte sie zur Seite; täglich zählte sie ihr Geld, manchmal mehrmals. Uns erzählte sie, sie habe das Ziel, sich ein Haus zu kaufen, eine Familie zu gründen. Sie muss sich das tausende Male am Tag vorgebetet haben – nur nicht an den Krebs denken. Und nach Jahren
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