Hirngespenster (German Edition)
Ende für meine Schwester vorgesehen haben könnte, grub sich täglich tiefer in meinen Magen ein, machte es sich dort bequem wie eine Katze im Heuhaufen. Ein Leben ohne sie konnte ich mir einfach nicht vorstellen! Sie tat mir unendlich leid, denn garantiert konnte auch sie sich ein Leben ohne sich selbst nicht vorstellen. Und damit kam die heimliche Erleichterung, dass es nicht mich getroffen hatte. Dieser böse Gedanke war fast schlimmer als Annas Krankheit selbst. Ich hatte keinen Appetit mehr, genauso wenig wie sie. Ich dagegen kotzte nicht. Die Leckereien, die wir ihr mitbrachten, ließ sie unangetastet stehen.
In der Hoffnung, sie abzulenken, brachte ich ihr Bücher, TKKG oder Enid Blytons Fünf Freunde – Bücher, die ich selbst verschlang –, doch sie las kein einziges. Meist tat sie gar nichts.
Als man sie nach fast einem Jahr Klinikaufenthalt als vorerst geheilt, aber glatzköpfig und wimpernlos entließ, war ich mitten in der Pubertät und einen halben Kopf größer als sie. Ich war eine dürre Bohnenstange mit großem Busen. Sie sah sich in meinem Zimmer um, betrachtete sich schweigend die Poster von The Police und fragte: »Wo sind denn die ABBA-Poster hingekommen?«
Ich schluckte. »Weg. Ich … ähm … höre jetzt was anderes.«
Wortlos verließ sie mein Zimmer, und ich eilte ihr hinterher. »Soll ich dir mal eine Platte von denen vorspielen? Die sind super!«
Sie blieb stehen und blickte mich unter ihrer braunen Perücke böse an. »Hättest du nicht auf mich warten können? Ich bin älter als du und kann nichts dafür, dass ich Leukämie hatte.«
Ich runzelte die Stirn. Natürlich konnte sie nichts dafür. Aber sie konnte doch trotzdem meine Musik hören!
»Nicht nur, dass du jetzt andere Musik hörst. Du hast auch noch einen Busen bekommen!«
»Entschuldigung«, flüsterte ich.
Ich kaufte mir weite Pullis und versteckte die Brüste, an die ich mich selbst noch nicht gewöhnt hatte.
Mein Vater baute den Dachboden für sie aus, meine Mutter nähte Bettwäsche und Gardinen. Sie wollten ihr was Gutes tun, ihr ein eigenes Reich schaffen, weil sie die Ältere war. Und ich freute mich auf die gemeinsamen Abende, die wir mit Bravolesen und Jungsgeschichten verbringen würden.
Zu mir sagte sie: »Ich glaube, sie wollen mich loswerden. Unters Dach verfrachten sie mich.«
»Wenn du es nicht möchtest, dann ziehe ich oben ein«, bot ich an.
Annas Augen funkelten. »Immer geht es nur um dich, weißt du das? Dauernd quasselst du nur von dir, von der Schule, wo alles so toll läuft, von deinen tollen Freunden! Jetzt sind wir auch noch in derselben Klasse, damit du mir noch mehr zeigen kannst, wie viel besser du bist!«
Ich ließ den Kopf hängen, fühlte mich unverstanden und nutzlos. Ich hatte ihr doch nur helfen wollen, sie aufmuntern und in meine Klasse integrieren. Hatte insgeheim gehofft, man könne uns für so etwas wie Zwillinge halten. Doch auf meine Freundinnen reagierte sie abweisend und kühl. In den Pausen stand sie abseits und wartete auf die Kontaktaufnahme ihrer früheren Klassenkameradinnen, von denen sie einen ganzen Stapel Briefe ins Krankenhaus bekommen, aber nie geantwortet hatte. Anfangs kamen sie auch, später nicht mehr. Man mied Anna. Sie verbreitete Melancholie.
Eine Melancholie, die nicht nur die anderen deprimierte, sondern mich auch.
Sie sagte: »Das hast du ja gut eingefädelt, Silvie. Papa guckt nur noch nach dir, weil du in der Schule absackst. Mama kann kaum noch schlafen, weil sie denkt, du gerätst auf die schiefe Bahn. Ich glaub, die hängen das sogar mir an, weil sie glauben, dass sie dich angeblich zu sehr vernachlässigt haben. Ich hab mir das aber nicht ausgesucht mit der Leukämie! Wäre mir auch lieber gewesen, du hättest sie gekriegt!«
»Wie kannst du nur so was sagen?«, flüsterte ich. Doch sie verschränkte die Arme und kniff die Lippen zusammen. Ich ging in mein Zimmer und warf mich aufs Bett, sah an die Decke, bis die Augen überquollen und unterdrücktes Weinen meine Kehle verließ. Erst in diesem Moment begriff ich, dass es nie mehr so zwischen uns werden würde wie früher. Ein Stück meiner alten Anna war mit der Chemo zerstört worden, unwiederbringlich.
Und die Attacken häuften sich. »Silvie ist nicht da«, log sie, wenn meine Freunde anriefen; dabei wusste sie ganz genau, dass ich im Wohnzimmer saß und Hausaufgaben machte. Wenn ich dann fragte »Was soll das?«, dann rief sie: »Huch! Du bist ja doch da. ’tschuldigung.« Sie richtete
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