Hirngespenster (German Edition)
Regale kaufen und alles«, grinste er. »Mein Zimmer dem Rest des Hauses anpassen.«
»Mir müsste das keiner zweimal anbieten!«, lachte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Nee.« Seine Hand machte eine schwungvolle Bewegung in den Raum hinein. »Erfüllt doch alles seinen Zweck.« Er lachte. »Ich hab ein eigenes Bad, ein Bett und ein Extrazimmer mit Schreibtisch. Andere haben nur ein Zimmer. Sollen die die perfekte Einrichtung kriegen.«
Inzwischen griff er nach einem Fotoalbum und schlug es auf. Dass er es neben seinem Bett liegen hatte, sprach Bände. Ein Mädchen mit glänzenden schokobraunen Haaren und hellbraunen Augen strahlte mich an. Ihr Gesicht war mit Sommersprossen übersät, die Zähne blitzten weiß, sie riss die Arme in die Höhe, als riefe sie »Tataaa!«. Johannes blätterte weiter. Auf den folgenden Seiten vollführte das Mädchen anmutige Turnübungen auf einer grünen Wiese; sie schlug Rad, machte einen Handstand. Und überall dieses unschlagbar sympathische Lachen, der schlanke Körper verrenkte sich anmutig, und ich sank mit jedem weiteren Bild in mich zusammen. Auf der letzten Seite des Albums gab es ein Bild von ihm und ihr, sie strahlten um die Wette. Johannes lugte mit seinen braunen Augen schelmisch unter dem Schirm der Baseballkappe hervor, sie lachte lauthals, die kinnlangen Haare umrahmten ihr Gesicht. Sie sahen aus wie zwei Werbeamerikaner – den beiden hätte man alles abgekauft. Dass sie Cheerleaderin war, ahnte ich nicht, ich hielt das für ein Klischee aus amerikanischen Filmen. Er sah geradezu aus, als könne auch er lauthals lachen – was ich persönlich noch nie erlebt hatte.
»Sie sieht jung aus«, bemerkte ich schüchtern, als Johannes das Album zuklappte. Dabei war ich selbst jung – was ich meinte war: wie ein Kind.
Er nickte und schluckte verdächtig. »Drei Jahre jünger. Merkt man aber nicht.«
Wir kannten uns nicht gut genug, als dass ich ihn hätte über seine Gefühle ausquetschen können; sein Gesicht sprach ohnehin Bände. »Danke, dass du mir die Bilder gezeigt hast«, sagte ich nur und sah ihn mitfühlend an. Ihm kullerte eine Träne über die Wange, und er schloss die Augen. Ich war geschockt und hilflos. »He, Johannes«, sagte ich lahm und strich ihm mit meiner Hand über die Wange. Er schluchzte, seine Unterlippe zitterte und legte die Zähne frei. Es sah nicht hübsch aus, aber so verletzlich, so rührend. Ich konnte nicht anders, als ihn in den Arm zu nehmen – jeder hätte das getan. Und als ich seinen Kopf streichelte, wollte ich nichts anderes, als ihn zu trösten. Ich wischte mit dem Daumen seine Tränen weg, eine nach der anderen, doch ich kam nicht nach, er weinte immer mehr, bis es schließlich seinen ganzen Körper schüttelte. Ich kniete mich schnell neben ihn aufs Bett und hielt ihn fest, strich ihm mit der Hand übers Haar, wie bei einem kleinen Jungen. Ich hielt ihn so fest, wie ich zuletzt Anna nach ihrer Chemo gehalten hatte, streichelte seinen Rücken und flüsterte beruhigende Worte. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis er sich beruhigte. Dann legte er sich auf den Rücken und schloss die Augen. Ich saß einen Moment unschlüssig neben ihm und lauschte seinem unregelmäßigen Atem, der in einen Schluckauf übergegangen war. Dann legte ich meinen Kopf auf seine Brust und nahm seine Hand. So lagen wir eine halbe Stunde beisammen, ein Freund und eine Freundin. Mehr war nicht, wobei das natürlich schon eine Menge ist. Er war noch nicht mal mein Typ – ein langhaariger Motorradfahrer hätte weitaus besser zu mir gepasst als dieses Söhnchen aus gutem Hause. Ich hätte mich auch mit ihm geschämt, auf keinen Fall wollte ich meinen Eltern und meiner Schwester einen Freund vorstellen, der ihnen gefiel. Nie im Leben! Dass er sich an meiner Schulter ausheulte, nach seiner Ex-Freundin verzehrte – für mich war das so etwas wie eine Ehre und eine Bestätigung meines besonders ausgeprägten Einfühlungsvermögens. Mit neunzehn genügte mir das.
So ging es bis zu den darauffolgenden Sommerferien. Ich wusste mittlerweile alles über Sabina. Sie war neben zwei anderen Kindern die jüngste Tochter seiner deutsch-amerikanischen Austauschfamilie und hatte die Aufgabe, von dem netten Jungen aus Deutschland ein bisschen »Deutsch der heutigen Jugend« zu lernen. Johannes hatte dadurch jede Menge Gründe, viel Zeit in Sabinas Zimmer zu verbringen. Jeden Dienstag- und Donnerstagnachmittag lagen sie sich in den Armen, bis die Mutter von der Arbeit
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