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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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weniger als
mit fünfunddreißig? Denken Sie so? Dann haben Sie aber schon früh resigniert.
Man darf, sage ich Ihnen! Man darf mehr verdienen wollen, man darf glücklich
sein wollen, man darf eine interessante Arbeit haben wollen, man darf Annerkennung
bekommen wollen, man darf wie ein Mensch behandelt werden wollen. Man darf!
Hören Sie? Und ich will das alles. Ich bin promovierte Historikerin. Im Westen
würde ich an einer Universität unterrichten oder in einer einflussreichen
Zeitungsredaktion sitzen. Und hier lässt man mich vergammeln.«
    Luba sieht aus dem Fenster. Dr. Luschenkos Suade oder was für
eine Art von Predigt es auch immer ist, hört sie kaum noch. Stattdessen träumt
sie von einem Frühlingsspaziergang am Dnjepr, bis ihr ein Duft in die Nase
steigt, kurz nachdem sie ein leises »Pffft, pfft« gehört hat. Sie geht einen
Schritt rückwärts, noch mal »Pffft, pffft«, und sieht im Fenster gespiegelt,
wie sich Dr. Luschenko aus einem mattglasigen kegelförmigen Flakon Eau de
Toilette an den Hals sprüht, ohne ihren Wortschwall auch nur für den Bruchteil
einer Sekunde zu unterbrechen.
    Luba riecht die Maiglöckchennote. Erinnert sich, als sie mit Ilya im
Kaufhaus GUM in der Chrescatykstraße einkaufen
war. Durch alle Abteilungen waren sie geschlendert. Immer, wenn sie etwas anfasste,
wollte Ilya es ihr schenken. »Du spinnst ja«, sagte sie dann, »das ist viel zu
teuer.« In der Parfümerieabteilung nahm Ilya dieses Parfüm, sprühte es auf
seine Hand und ließ Luba daran riechen: »Und, gefällt es dir?«
    Dr. Luschenko redet immer noch, und jetzt dringt es auch wieder
an Lubas Ohr.
    »Ich will leben. Ich will noch etwas sehen von der Welt. Sie nicht?
Warum hat der Alte, Alexej, Ihnen wohl die Karte gegeben? Er will, dass Sie
dorthin gehen, an die Orte, die er als junger Mann gesehen hat, wo er arbeiten
musste und von den Menschen angespuckt wurde. Nach den Ukrainern kamen nur noch
die Juden und die Zigeuner. Ihr Freund Alexej durfte damals kein Geld besitzen,
kein Fahrrad, nicht einmal ein Feuerzeug. Er bekam schlechteres Essen und
weniger Lohn als die Deutschen. Er durfte nicht einmal mit Deutschen zusammen
in die Kirche gehen. Und hätte er Sex mit einer Deutschen gehabt, wäre er mit
dem Tod bestraft worden. Wussten Sie das, Luba? Und jetzt Schluss mit den
Sentimentalitäten und her mit der Karte. Oder Sie gehen einfach wieder und stehlen
mir nicht die Zeit.« Dr. Luschenko saugt den letzten Rest aus ihrer Kippe
und drückt sie wütend aus.
    Luba knallt ihren Rucksack auf den Tisch und zieht die Karte heraus.
    »Sie können Marjana zu mir sagen«, sagt Dr. Luschenko.

Berchtesgaden, 29. Mai 2010
    Im Talkessel sind die Wiesen fett geworden, grün und dicht wie
pralle Nadelkissen. Die Berge bilden ein Halbrund um die Ebene mit ihren
Bilderbuchdörfern, den Mischgehölzen und den vereinzelt stehenden Laubbäumen.
Wie auf einer Schnur sind sie aufgefädelt, massive Felsbrocken, aus denen
spitze Gipfel ragen, runde Buckel, Hörner oder aufgerissene Fischmäuler wie das
des Watzmann-Massivs. Als Fremdem bleibt einem die Luft weg, wenn man hier im Talkessel
ankommt. Man denkt, die Einheimischen müssen vielleicht schon blind geworden
sein für diese großartige Kulisse, die sie jeden Tag vor der Nase haben. Aber
so ist es nicht. Die Berge sehen jeden Tag, mitunter jede Stunde anders aus.
Das Licht erschafft sie immer wieder neu.
    Magdalena Morgenroth fährt eine Schubkarre mit dampfendem Mist aus
dem Stall über den ungepflasterten Hof ihres kleinen bäuerlichen Anwesens und
kippt ihn auf einen Haufen am Ende des Gartens.
    »Servus, Leni.«
    Leni fährt herum. »Ja, Manfred, was machst du denn hier bei uns im
Tal? Hast du Urlaub?«
    »Nein, ich bin wegen dir da.«
    »Wegen mir? Du weißt, dass ich außer Dienst bin. Ab Sonntag bin ich
weg. Auf der Alm.«
    »Das weiß ich, Leni, ich hab doch deinen Antrag auf dieses, dieses …«
    »Sabbatjahr.«
    »… ja, genau, das hab ich doch letztlich befürwortet nach oben
hin, nachdem du mir das Messer auf die Brust gesetzt und gesagt hast, entweder
das Sabbatjahr wird genehmigt, oder ich geh ganz.«
    »Ja, eben. Was willst dann jetzt hier, wenn du das weißt?«
    »Leni, kannst denn das nicht verschieben, die Spinnerei mit der Alm?«
    »Das ist keine Spinnerei, Manfred. Jedenfalls auch nicht spinnerter,
als zwanzig Jahre Verbrechern hinterherzujagen. Ich brauch eine Auszeit, und
ihr habt sie mir genehmigt.«
    »Ja, nachdem du uns quasi erpresst

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