Hirschgulasch
Polster
auf den Stühlen, die Sitzbänke vor der Spiegelwand mit feuerrotem Kunstleder
bezogen. Über den Spiegeln Hutablagen wie im Orientexpress.
Die rot-weiß karierten Tischdecken stammen vom Montmartre zu Zeiten
Toulouse-Lautrecs. Die Kuchentheke aus dunklem Holz, mit dicken Glasscheiben
oben und nach vorne, wurde irgendwo abgebaut, wo man ihre Schönheit nicht zu
schätzen wusste. Der Zug einer Modelleisenbahn aus den fünfziger Jahren ist in
einer Glasvitrine aufgebaut und zwei Modellbahnhöfe: Paris und Kiew. Ein
Sammelsurium an Einrichtungsgegenständen verschiedenster Herkunft, Epochen und
Stile, zusammengefügt zu einem Gesamtkunstwerk, das nicht jedem gefällt, die
meisten aber doch zum Staunen bringt.
Luba setzt sich an einen Tisch neben zwei junge Deutsche. Sie sprechen
leise, aber Luba erkennt ihre Sprache.
Von Wiktor keine Spur. Sie bestellt eine Tasse Schokolade, und als
der junge Kellner sie bringt, fragt sie ihn nach ihm.
»Er ist nicht in der Stadt«, sagt der Junge. »Du kennst Wiktor?«
»Ja, ich habe ihn vor Kurzem kennengelernt.«
»In Kiew?«
»Nein, draußen.«
»Ah, du bist Luba?«
Luba sieht ihn verdutzt an.
»Er hat mir von dir erzählt. Ich bin Wiktors Sohn, Dimitrij.«
»Aha«, sagt Luba. »Hat er dir noch mehr erzählt?«
»Dass du vielleicht kommst und dass ich dich nach deiner Handynummer
fragen soll.«
»Die bekommt nicht jeder.«
»Das hat sich mein Vater schon gedacht, dass du sie mir wahrscheinlich
nicht geben wirst. Für den Fall soll ich dir seine geben.«
»Will ich auch nicht haben. Ich weiß ja, wo ich ihn finden kann,
wenn ich noch mal das Bedürfnis danach habe.«
Dimitrij ist ratlos, sie sieht es ihm an.
»Sag mal, wo hat dein Vater denn früher gearbeitet? Stimmt es, dass
er Hubschrauberpilot war?«
»Ja, er war beim Militär. Sein letzter Einsatz war das Löschen des
Reaktors. Danach war er krank. Und dann haben sie ihn ausgemustert und ihm
einen Bürojob in einer Transportfirma beschafft. Es war eine russische Firma.
Sie ist nach dem Ende der Sowjetunion aufgelöst worden, und er hat keine Arbeit
mehr gefunden.«
»Wie alt bist du?«, fragt Luba ihn.
»Ich bin zweiundzwanzig. So alt wie mein Vater war, als er mit
seinem Heli Sand in den Reaktor gekippt hat.«
»Bei den Russen hat dein Vater also gearbeitet. War er mal im Gefängnis?«
»Im Gefängnis? Wieso denn?«
»Und deine Mutter?«
»Meine Mutter ist gestorben, als ich klein war. Sie hatte Leukämie.«
»Hat dein Vater gesagt, warum er denkt, ich würde mich bei ihm
melden?«
Der Junge schüttelt den Kopf.
Luba will bezahlen, aber er nimmt ihr Geld nicht an. Sein Vater habe
gesagt, sie habe ihm aus der Patsche geholfen und deshalb noch etwas gut bei
ihm.
Luba hat die Münzen, die sie sich zum Bezahlen der Schokolade
zurechtgelegt hat, noch in der Hand, als sie das Café verlässt. Der neben der
Eingangstür sitzende Bettler profitiert von diesem Umstand und davon, dass Luba
keine Lust hat, den Geldbeutel aus der Lederjacke zu ziehen. Sie hat gern alles
unter Kontrolle, vor allem sich selbst, und fährt vorschriftsmäßig auf den
Straßen zwischen den großen Häusern hindurch, erst in der Mitte der
Dnjepr-Brücke gibt sie ihrem Gefühl der Frustration nach und lässt ihre Ninja
für ungefähr vier Sekunden aufheulen, um gleich darauf die Bremsen anzuziehen
und das Motorrad von hundertsechzig auf die vorgeschriebenen fünfzig
Stundenkilometer abzubremsen. Der Rückspiegel reflektiert kurz ein blaues
Blinklicht.
Die Zone, 5. Mai 2010
Unmittelbar nach dem Schlagbaum ist alles anders. Es gibt keine Wiesen
mehr, nur noch Sträucher und Gestrüpp und manchmal einen Streifen hartes
verfilztes Gras dazwischen. Die Vegetarier unter den verbliebenen Tieren haben
es nicht geschafft, mehr freie Flächen zu erhalten.
Das Gebüsch nähert sich der schmalen Straße wie eine grüne Mauer.
Luba gibt ihrer Ninja die Sporen. Die Blätterwand absorbiert den Lärm der
schreienden vier Zylinder. Marjana klammert sich an Lubas Taille. Der Wind der
Maschine drückt das Laub in einer rasenden Welle zur Seite. Marjana denkt
daran, was Luba geantwortet hat, als sie sie vor dem Aufsitzen fragte, wie
schnell die Maschine fahre: »Weiß ich nicht, ich fahre nie schneller als
dreihundert.« Marjana dachte, es wäre ein Scherz.
Die Zone, in der sie noch nie gewesen ist, macht ihr Angst. Wegen
der Strahlung und auch wegen der Typen, die hier herumstreunen. Aber im Moment
konzentriert sie sich nur darauf, nicht von
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