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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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Sie erzählten mir von ihren Familien, ihren Kindern und manche auch von
ihrem Hund oder ihren Katzen. Wenn es irgendwie ging, habe ich ihnen zugehört
und erfahren, dass es nicht die Entschädigung war, auf die sie sechzig Jahre
lang sehnsüchtig gewartet hatten. Nein. Ihre Sehnsucht war nicht das Geld, das
ohnehin nur ein Klacks war. Ihre Sehnsucht war es, zu sehen, dass ihre
Verschleppung, ihre Arbeit in Deutschland und ihre Not nicht unbemerkt geblieben
und noch nicht von der Welt vergessen waren. Zu spüren, dass nun endlich aus
Deutschland die Bestätigung kam: ›Ja, wir wissen, ihr wart bei uns. Man hat
euch hierhergebracht, und wir haben euch nicht vergessen.‹ Das war ihnen
wichtig. Dieses Gefühl berührte die alten Leute, die sich oft kaum mehr bewegen
konnten, aber, wenn es irgendwie ging, zu meinen Kolleginnen oder mir kamen, um
sich wie als Bestätigung – ›Ja, ich war auch dabei, ich habe es nicht
geträumt oder nur phantasiert‹ – ihre Entschädigung abzuholen.«
    Luba schnäuzt sich. Wiktor beugt sich zu ihr und berührt sie am Arm,
aber sie rückt von ihm weg und streckt den Oberkörper durch.
    »Ich weiß, was passierte, wenn sie in ihr Häuschen außerhalb Kiews
oder in die kleine Wohnung einer der vielen Plattenbausiedlungen zurückkehrten,
nachdem sie bei uns gewesen waren. Sie zeigten das erhaltene Geld ihrer Tochter
oder ihrem Sohn und sagten: ›Hier, seht her, ich habe als junger Mensch in
Deutschland gearbeitet, ich habe Jahre meines Lebens dort gelassen, aber nicht
völlig umsonst und vor allem nicht vergessen.‹ Sie hatten niemanden, mit dem
sie über ihr Schicksal reden konnten, denn in der Sowjetunion war jeder
verdächtig, der ohne Gewehr in Deutschland gewesen war. Auch Sklaven in
deutschen Fabriken, in Krankenhäusern, Privathaushalten und in der
Landwirtschaft bekamen dieses Misstrauen zu spüren. Viele verschwiegen ihre
Vergangenheit aus Angst davor, als Kollaborateure bestraft oder gar erschossen
zu werden.«
    Marjana nimmt einen Schluck Wasser. Im Publikum ist es ganz still.
Es hat den Anschein, als habe sie den Ton getroffen, mit dem sie die Menschen
erreicht.
    »Es gab unter ihnen auch welche, die nicht nur schlechte Erfahrungen
in Deutschland gemacht hatten. Wenige hatten dieses Glück, aber es gab sie:
Arbeitgeber, die trotz der Umstände versuchten, die ihnen zugewiesenen
Zwangsarbeiter fair zu behandeln. Aufseher oder Vorarbeiter, die nicht
schlugen, die die Zwangsarbeiter nicht hungern ließen, die sie wie Menschen
behandelten. Auch in dieser schweren Zeit wurden Freundschaften geschlossen,
durch die es den Verschleppten überhaupt erst gelang, die Kraft zu finden, das
alles zu überstehen. Freundschaften zwischen Arbeitskollegen und -kolleginnen,
egal, ob sie Russisch, Polnisch oder Deutsch sprachen. Manchmal war es mehr als
Freundschaft. Menschen verliebten sich ineinander, auch wenn es eine Liebe war,
von der man wusste, dass sie nur im Herzen, nicht in der Wirklichkeit Bestand
haben würde.«
    Jemand hustet, man hört das Rascheln eines Papiertaschentuchs.
    »Wieder in der Heimat, lebten diese Menschen in der Überzeugung,
dass alles, was sie in den Kriegsjahren erlebt hatten, für immer vergessen und
begraben war. Dann, fünfzig Jahre nach Kriegsende, gab es plötzlich wieder
Menschen in Deutschland, die sich für die Opfer der Zwangsarbeit
interessierten, die nach ihnen fragten, die zu ihnen kamen oder sie über Stadt-
und Gemeindeverwaltungen ausfindig zu machen suchten. Und mit einem Mal waren
die Erinnerungen wieder ganz frisch. Endlich konnten sie über ihre
Vergangenheit sprechen, denn da war jemand, der Anteil nahm an ihrem Schicksal
und wissen wollte, was aus ihnen geworden war und was sie in Deutschland erlebt
hatten.«
    Noch mehr solcher Rührseligkeiten, denkt Wiktor, und Luba heult laut
los.
    »Es kamen Menschen zu ihnen mit alten Fotografien, auf denen sie
sich als junge Frauen und Männer wiedererkannten. Sie erinnerten sich genau,
wann und wo das Bild aufgenommen worden war und wer die Freundinnen oder Kollegen
gewesen waren. Sie erinnerten sich an deren Namen und Herkunftsländer und an
viele Einzelheiten, die doch so lange zurücklagen: dass dieser ein lustiger
Bursche gewesen war und jener die Mundharmonika spielen konnte. Dass das
Mädchen aus Charkow perfekt nähen und jene Polin die schönsten Lieder singen
konnte, bei denen alle weinten, auch wenn sie nicht ein Wort verstanden.«
    Marjana hält kurz inne. »Sehr verehrte Zuhörer hier

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