Hirschgulasch
von Jurijs Leuten
sein.«
Berchtesgaden, 24. Mai 2010
»Ich finde, dass du in diesem Nadelstreifenkostüm aussiehst wie die
Damen, die sich in unserem Luxushotel um die Gäste kümmern.«
»Was soll das jetzt?«, fährt Marjana ihn an. »Ist es dir jetzt zu
sexy oder zu seriös? Du bringst mich total durcheinander.«
»Ich meine ja nur, du bist doch Wissenschaftlerin.«
»Ja und?«
»Lass Marjana in Ruhe«, zischt Luba. »Sie muss sich auf ihren Vortrag
vorbereiten, mental, meine ich.«
»Genau, mein Lieber. Ich muss mich jetzt ein bisschen sammeln.«
»Halt am besten ab jetzt den Mund, Wiktor.« Luba zieht die Eingangstür
zur Dokumentation Obersalzberg auf. Die im Foyer Wartenden drehen sich zu ihnen
um, und ein Mann in Marjanas Alter, das Haar grau und wellig, eine gelbe Fliege
zum braun gemusterten Anzug tragend, kommt auf sie zugeeilt.
»Frau Dr. Luschenko, herzlich willkommen, ich bin Dr. Beltz
vom Institut für Zeitgeschichte. Wir freuen uns sehr, dass Sie gekommen sind.
Hatten Sie einen guten Flug?«
»Ja, danke. Wir sind über Frankfurt geflogen.«
»Und dann Frankfurt–Salzburg?«
»Äh, ja, genau. Das sind übrigens meine Freunde, die mich auf der
Reise begleiten: Luba Munin und Wiktor Owtscharow aus Kiew.«
»Sehr angenehm. Sind Sie auch Historiker?«, fragt Dr. Beltz.
»Meine Freunde sind keine Historiker, nein, und sie sprechen leider auch
kein Deutsch.« Marjana späht durch die Glastür in die Ausstellungsräume.
»Möchten Sie noch einen kurzen Rundgang durch unsere Ausstellung
machen?«, fragt Dr. Beltz eifrig. »Wir haben noch etwas Zeit.«
Marjana lässt sich das Modell des Obersalzbergs mit den ehemaligen
Nazi-Gebäuden zeigen, der SS -Kaserne, Hitlers
Wohnhaus, Görings und Bormanns Haus, dort, wo sie heute im Luxushotel logieren.
Sie hat alle verfügbaren historischen Karten zu Hause studiert und könnte die
Gebäude aus dem Stegreif benennen, aber sie hält sich zurück, gibt sich
interessiert und beeindruckt.
Oben auf der Galerie sind die Hitlerbilder aus dem Illustrierten
Beobachter zu sehen. Der Hände schüttelnde, Kinderköpfe streichelnde,
Schäferhund betrachtende, neben Eva Braun seine Suppe löffelnde Österreicher
von schmächtiger Statur. Sogar auf Zigarettenbildern war er abgebildet, die man
sammeln und tauschen und dann in ein Album einkleben konnte.
Als sie vom ersten Stock wieder ins Erdgeschoss steigen, dringt eine
der typischen Reden Hitlers, oszillierend zwischen abgehacktem Stakkato, das
sich bis zum Schreien steigert, und einem bewusst leisen, schmeichelnden Ton,
an Marjanas Ohr. Die Stimme kommt aus einem schwarzen Volksempfänger.
»Sie werden ihn doch ausschalten, während ich meinen Vortrag
halte?«, fragt sie.
»Keine Sorge, wir werden ihm gleich den Saft abdrehen«, verspricht
Dr. Beltz.
Volksgemeinschaft, Hitlerjugend, Kraft durch Freude. Von der vermeintlichen
Idylle zum Terrorapparat, zur Rassenpolitik, zur Euthanasie, Kriegsbeginn, der
Überfall auf die Sowjetunion, Vernichtungskrieg, die Shoah. Eine Spur des
Terrors und der sich radikalisierenden Gewalt zieht sich durch diese
Ausstellung wie durch die reale historische Epoche. Marjana nimmt alles auf,
auch wenn sie nicht genügend Zeit haben, sich die einzelnen Exponate genauer
anzusehen. Luba starrt die Bilder von Babyn Jar und der Räumung des Ghettos von
Misotsch in der Westukraine an. Nackte, frierende Menschen auf ihrem Weg zu den
Erschießungsplätzen. Wiktor hat sich von der absoluten Trostlosigkeit dieser
Bilder abgewendet und scheint es darauf abgesehen zu haben, sich die adrette,
blauäugige Visage eines der abgebildeten Täter einzuprägen. Marjana hat den
Höheren SS - und Polizeiführer, der 1946 in Riga
hingerichtet wurde, bereits erkannt.
»Für den Untergrund haben wir jetzt leider keine Zeit mehr, auch für
die Bunkeranlage nicht, wenn Sie die noch gern gesehen hätten.« Dr. Beltz
führt sie zur Treppe, die zu den Seminarräumen hinuntergeht.
Der Vortragsraum mit der breiten Fensterfront ist bereits gut
besetzt. Marjana legt sich Karteikarten mit den wichtigsten Stichpunkten für
ihre Rede am Pult zurecht, nimmt sich aber vor, möglichst frei zu sprechen.
Luba und Wiktor nehmen im Publikum Platz.
Während Dr. Beltz Marjana als Referentin vorstellt, studiert
sie die Gesichter in den Reihen vor ihr. Obwohl auch ein paar jüngere Leute im
Publikum sitzen, ist der Altersdurchschnitt doch eher hoch. Ihr Blick bleibt
kurz bei Wiktor hängen, der ihr aufmunternd und
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