Hirschgulasch
ziemlich auffällig zuzwinkert.
Marjana tritt ans Rednerpult, bedankt sich für die Einladung. »Das
Thema meines Vortrags – ›Zwangsarbeit und Entschädigung: eine Bilanz‹ –
möchte ich ein wenig abändern«, kündigt sie an. »Anstelle der Daten, Fakten und
Zahlen, über die ich eigentlich referieren wollte, möchte ich den Schwerpunkt
gern ein wenig anders legen. Ich will Ihnen erklären, warum. Ich bin
Ukrainerin. Mein Land ist seit 1991 unabhängig, wir hatten die Orangene Revolution,
und irgendwann werden wohl auch wir der Europäischen Union beitreten. Auch wenn
wir gerade einen neuen Präsidenten gewählt haben, der wieder nur der ganz alte
ist. Ich war lange Zeit Bürgerin der Sowjetunion. Jetzt bin ich Europäerin wie Sie,
und doch kommt es mir vor, als käme ich von sehr weit her, wie aus einer
anderen Welt. Die ganze Geschichte unseres geschundenen Landes kann ich Ihnen
nicht erzählen, aber eine Geschichte habe ich doch für Sie. Die Geschichte
eines einzelnen Menschen, mit dem ich nicht einmal verwandt, aber auf besondere
Weise sehr verbunden bin. Er heißt Alexej Wassiljewitsch Schalimow. Nennen wir
ihn einfach Alexej, wie einen Freund. Er ist unser Freund geworden, seit wir
seine Geschichte kennen. Sie geht so.«
Marjana räuspert sich. »Alexej wurde am 21. November 1925 in
Kiew geboren. Sein Vater war Schmied, seine Mutter Wäscherin. Mit noch nicht
ganz achtzehn Jahren musste er sich am Morgen des 3. Juni 1943 am
Hauptbahnhof Kiew einfinden. Seine Mutter begleitete ihn in einiger Entfernung,
denn er wollte nicht mit ihr gesehen werden. Er wurde mit dem Zug nach Westen,
ins Deutsche Reich, geschickt. Zuerst nach Berlin und von da aus in den Süden,
in ein Dorf namens Brannenburg, das hier ganz in der Nähe liegt. Sie werden es
kennen. Er hat dort in zwei landwirtschaftlichen Betrieben gearbeitet, zusammen
mit fünf weiteren Ukrainern, drei Polen und zwei Weißrussen. Michail, Andrej,
Grigorij …«
»Ist die verrückt geworden?«, zischt Wiktor. »Sie redet uns noch um
Kopf und Kragen.«
»Verrückt ist sie schon, aber nicht blöd. Und jetzt halt den Mund,
ich will zuhören.«
Marjana erzählt Alexejs Geschichte, seine bitteren vier Kriegsjahre
in Deutschland. Seinen Hunger, die Demütigungen, die er erfahren muss, die
Verletzungen, die er an Körper und Seele erleidet. Sie lässt ihn in den
Bautrupps arbeiten, die am Obersalzberg Hitlers Privatbunker in den felsigen
Untergrund schlagen.
»Sie dreht total durch.« Wiktor kann nicht glauben, was er da hört
und sieht. Luba hat Tränen in den Augen. Dass dieses Volk immer heulen muss,
denkt Wiktor.
Marjana erzählt von Alexejs Heimkehr als Mittelloser in die Ukraine,
in ein Land, das sechseinhalb Millionen Menschen verloren hat. Weitere zehn
Millionen sind obdachlos. Es herrscht bittere Armut. Dann kommt der
Wiederaufbau, die schnell hochgezogenen Plattenbauten. Sie erzählt von der
Zeit, als Mila in Alexejs Leben tritt, die bis zu seinem Tod an seiner Seite
bleiben wird. Sie richten sich im Leben ein und erreichen sogar einen mäßigen Wohlstand,
als sie 1970 in die Nähe der neu erbauten Kraftwerksstadt Prypjat ziehen. Alles
könnte gut werden. Doch dann kommt jener Tag im April 1986, an dem der Reaktor
brennt und nichts mehr ist wie zuvor. Während die Liquidatoren ihr Leben und
ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, um eine noch größere Katastrophe zu
verhindern, werden die Bewohner von Prypjat evakuiert. In Bussen verlassen sie
weinend ihre Stadt, und sie kehren nie wieder. Alexej und Mila aber bleiben.
Marjana erzählt von zwanzig Jahren kargen Lebens in der verstrahlten
Zone, in der die alten Leute auf sich gestellt, nur in der Gesellschaft sich
vermehrender Füchse und Wölfe, ausharren bis zu Alexejs letzter Stunde. Dass
Mila nun allein in ihrem Haus in der Zone lebt und dass das Pferd, das früher
den Wagen zog, auch längst gestorben ist. Und dass Alexej eine
Entschädigungszahlung aus Deutschland erhalten hat, 2006, kurz vor seinem Tod.
In Höhe von genau 2.523 Euro.
»In der Stiftung, die die Entschädigungszahlungen verwaltet und
verteilt hat, habe ich sie kennengelernt, die ehemaligen Zwangsarbeiter. Nicht
einen, nicht hundert, sondern Tausende. Ich kenne sie, ich kenne ihre
Lebensgeschichten. Sie haben mir von sich erzählt. Wie sie sich durchschlagen
mussten. Wie oft sie dachten, dass ihr Leben zu Ende sei, weil sie spürten, wie
sie durch die schwere Arbeit und die mangelnde Ernährung jeden Tag weniger
wurden.
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