Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
Vom Netzwerk:
auf dem Obersalzberg.
Diese Erinnerungen sind mehr wert als das bisschen Geld, das aber immerhin ein
Symbol dafür ist, dass die Arbeit, das Leid und das Unrecht, das den
Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen geschehen ist, nicht unbemerkt blieben.
Sie haben ein Stück ihres Lebens zurückbekommen, das ihnen durch das
Vergessenwerden so lange entrissen worden war. Einige wenige bekamen über Entschädigungsfonds
oder Spendenprogramme auf privater Initiative die Gelegenheit, nach Deutschland
zu reisen, an die Orte, an denen sie damals gelebt und gearbeitet hatten. Sie
konnten diesen Städten und Dörfern sagen: ›Ja, hier bin ich gewesen, als ich
jung war. Wenn ihr euch erinnert, dann darf ich mich auch erinnern.‹«
    Einer der Hausmeister schaltet die Deckenlampen an. Hinter den
Fenstern vergeht die Dämmerung und zieht einen schwarzen Vorhang vor die
Landschaft draußen.
    »Ich kenne eine sehr alte Dame in Kiew«, fährt Marjana fort, »eine
ehemalige Krankenschwester. Sie heißt Swetlana. Vor sieben Jahren wurde sie
nach Bonn eingeladen, in ein Ordenskrankenhaus, in dem sie als Siebzehnjährige
Zwangsarbeit leistete. Beim Blättern in alten Fotoalben der Ordensschwestern
entdeckte sie ein Foto, eine Gruppenaufnahme, auf der sie selbst abgebildet
war. Und wissen Sie, was sie unter Tränen sagte? Sie sagte: ›Dann war ein Teil von
mir immer hier in Deutschland.‹ Und es war ein großer Trost für sie. Nicht alle
Spuren ihrer Existenz waren ausgelöscht worden. Hier war der Gegenbeweis.«
    Es gibt ein wenig Bewegung im Saal, es wird gehüstelt. Einige
Zuhörer rutschen unruhig auf ihren Stühlen herum.
    »Ich komme nun zum Schluss, meine Damen und Herren«, reagiert
Marjana auf das Stühlerücken. »Unser Freund Alexej ist tot. Er hatte keine
Gelegenheit, sich auf Fotos, die auf bayrischen Bauernhöfen gemacht wurden,
wiederzufinden oder auf Bildern von Bautrupps auf dem Obersalzberg. Es wird nur
noch sehr wenige Überlebende geben, die sich an ihn erinnern können. Aber nun
habe ich Ihnen von ihm erzählt. Nun haben Sie ihn kennengelernt. Leider kann
ich Ihnen kein Foto von Alexej zeigen, aber sehen Sie auf Luba Munins Blog
nach, da gibt es Bilder von Menschen wie Alexej und seiner Frau Mila, die in
einem gespenstisch leeren Landstrich leben und dort ihr Auskommen finden
müssen. Das Blog heißt www.lubamunin.com. Und hier ist sie selbst: Luba Munin.«
    Marjana zeigt auf Luba, und alle Köpfe drehen sich nach ihr um.
    »Kannst du nicht ein bisschen freundlicher dreinschauen, wenn dich
schon alle anstarren?«, zischt Wiktor. Luba versucht ein Lächeln.
    »Und damit möchte ich enden«, ergreift Marjana wieder das Wort. »Ich
danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit und Ihnen, Dr. Beltz, für die
Einladung auf den Obersalzberg. Es war mir eine Ehre. Meinen ursprünglich geplanten
Vortrag werde ich als Download auf der Seite der ›Stiftung Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft‹ einstellen. Vielen Dank.«
    Der Applaus klingt warm und herzlich, Marjana widmet ihn im Geist
der einsamen Mila und denkt, dass das 20. Jahrhundert doch eigentlich
schrecklich war. Wie viel Grausamkeit und Verachtung die Menschen und ganz
speziell ihr Volk in dem vergangenen Jahrhundert erdulden mussten. Die
Gegenwart zu reflektieren schafft sie nicht mehr, denn Dr. Beltz springt
auf und schüttelt ihr die Hand, und eine der beiden jungen Museumspädagoginnen
steht mit einem Blumenstrauß vor ihr und strahlt sie an.
    Ein Mann in grauer Trachtenjacke kommt nach vorne. »Sehr verehrte
Referentin.« Halb Marjana und halb dem Publikum zugewandt fährt er fort: »Ihr
Vortrag hat mich, und ich glaube uns alle, tief bewegt. Ich möchte anregen,
dass ein Forschungsprojekt initiiert und über Spendengelder gefördert wird, in
dem Schüler des Berchtesgadener Gymnasiums in Abstimmung mit der Dokumentation
Obersalzberg und dem Münchner Institut für Zeitgeschichte zum Thema
Zwangsarbeit im Berchtesgadener Talkessel forschen und ihre Ergebnisse
dokumentieren. Vielleicht könnte man auch eine Ausstellung dazu machen. Und
wenn wir noch ehemalige Zwangsarbeiter, die hier bei uns waren, ausfindig
machen können, dann könnten wir sie oder ihre Kinder und Enkelkinder zu uns
einladen, je nach den zur Verfügung stehenden Mitteln.«
    »Schad, dass von den Politikern heute Abend keiner da ist«, ruft
jemand aus dem Publikum.
    In den Beifall hinein sagt Marjana: »Dann will ich einen Anfang
machen und zwanzigtausend Euro in die Kasse einzahlen, wenn es

Weitere Kostenlose Bücher