Hirschkuss
verunglücken.«
»Ist ja wurscht, wir sollen jedenfalls nach einem Abschiedsbrief suchen, hat er gesagt, der Schönwetter.«
Hätte man Anne gefragt, wie die Wohnung der Vermissten auf sie wirkte, hätte sie »weiß« gesagt. Die meisten Möbel waren weiß oder zumindest hell lackiert. Anne kannte sich mit Design nicht gut aus, doch die Einrichtung dieses Apartments wirkte richtig teuer auf sie. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass es so leer war. Im Verhältnis zur Größe des Hauptraums – einer Wohnküche von sicherlich vierzig Quadratmetern – war die Anzahl der schnörkellosen Möbel geradezu lächerlich gering.
»Das ist ja eine Turnhalle!«, staunte Kastner.
»Erst mal eine Runde Handschuhe«, meinte Anne und reichte Kastner und Schönwetter, der sie vor dem Münchner Mietshaus erwartet hatte, Einweghandschuhe und Schutzhüllen für die Schuhe.
Nonnenmacher war nicht mitgekommen, er hatte einen wichtigen Termin beim Bürgermeister der südlichen Seegemeinde vorgegeben. Er konnte Schönwetter nicht leiden, fand ihn »surflehrerhaft« und hochnäsig. Außerdem brachte es ihn zur Weißglut, dass sich die Kreisstadtkripo immer, wenn an dem See inmitten von Bergen ein Verbrechen geschehen war, in die Ermittlungen einmischte. Nonnenmacher fand, »dass der Kuhfladen da, wo er ins Gras fiel, zum Odeln genommen werden sollte, und nicht etwa in Burkina Faso oder Preußen«.
Die Wohnung war schnell durchsucht, ohne dass den Ermittlern ein Abschiedsbrief oder etwas anderes Verdächtiges in die Hände gefallen wäre, da schrie Schönwetter plötzlich auf: »Ja, da schau mal an!« In seinen Händen hielt der Kriminalpolizist einen geöffneten, prall gefüllten Umschlag. Sofort kamen Anne und Kastner näher. Schönwetter zog ein dickes Bündel Eurobanknoten aus dem Kuvert. Es bestand vor allem aus Fünfhunderter- und Zweihunderterscheinen. Die Ermittler zählten das Geld und kamen auf einen Betrag von hunderttausend Euro.
»Das ist ja schon sehr merkwürdig.« Anne sah ihre Kollegen nachdenklich an. »Da verschwindet eine Frau, und in ihrer Wohnung liegen hunderttausend Euro in bar herum, einfach so!«
»Wir müssen die Banknoten sofort auf Fingerabdrücke untersuchen lassen.« Schönwetter stand auf. »Haben Sie irgendwo Kontoauszüge oder andere Bankunterlagen gefunden?«
»Ja, dort im Regal war was.« Anne zeigte auf das weiße, hüfthohe Möbel, das unter einem gelb gerahmten Druck von Roy Lichtensteins Interior with Waterlilies stand. Auf dem untersten Brett waren zwölf fein säuberlich beschriftete Leitzordner aufgereiht.
Schönwetter wandte sich den Ordnern zu und kehrte bald darauf mit dreien von ihnen an den Tisch zurück. »Kontoauszüge I «, »Kontoauszüge II « und »Kontoauszüge III «.
In der folgenden Stunde untersuchten die drei Polizisten sämtliche Zahlungsein- und -ausgänge der vergangenen acht Jahre. Doch sie fanden rein gar nichts Verdächtiges. Hanna Nikopolidou verdiente mit rund neuntausend Euro Monatsgehalt überdurchschnittlich gut. Ihr aktueller Kontostand betrug zwölftausend Euro. Auch gab es regelmäßig größere Abbuchungen, aber die höchste unter ihnen betrug dreißigtausend Euro, ging an ihre eigene Bank und war laut Überweisungsvermerk für eine Beteiligung an einem Aktienfonds gedacht. Abgesehen von den monatlichen Gehaltszahlungen waren keine großen Geldeingänge zu verzeichnen.
»Warum lässt eine Bankerin, die sich mit Investments auskennt, hunderttausend Euro in bar bei sich zu Hause herumliegen?« Anne suchte fragend Kastners und Schönwetters Blicke. Doch keiner antwortete. »Das ist zum einen unsinnig, weil sie das Geld sicher rentabler anlegen könnte, und außerdem ist es auch für eine gut verdienende Bankerin definitiv zu viel.«
Schönwetter seufzte. »Vielleicht ist es Schwarzgeld. Ich glaube, ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee. Und ich habe noch einen Termin im Präsidium. Wäre es möglich, dass Sie die Banker und Frau Engels ohne mich befragen?« Die anderen beiden nickten.
Die Räume der Bank waren in einem Ende des neunzehnten Jahrhunderts erbauten, prachtvollen Gebäude der Münchner Innenstadt untergebracht. Im Verhältnis zu dessen Größe wirkte Hanna Nikopolidous Büro geradezu winzig. Weil der Chef der Verschwundenen angeblich keine Zeit hatte, baten die drei Ermittler zunächst Nikopolidous Kollegin Jane Kramermayer zum Gespräch. Anne setzte sich auf den Bürostuhl der Verschwundenen, die elegante Rothaarige nahm vor dem
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